Ein bisschen ein Geheimnis bleiben
Zum Tod des Journalisten und Blattmachers Hans-Eberhard Hess
Irgendwie war er immer beides: Kommunikativ und verschlossen, mitteilsam und diskret, offen und dabei Distanz wahrend. Keinesfalls Kumpel, aber unbedingt Kollege. Er konnte wunderbar parlieren, ein Meister des Smalltalk, ohne je Persönliches preiszugeben. In großer Runde fühlte er sich wohl, hielt sich aber doch zurück mit allzuviel Privatem. Er hatte Stil, auch wenn sich nicht genau sagen lässt, worin dieser bestand. Aber er pflegte dieses Besondere, diese Haltung. Er fiel auf, ohne wirklich aufzufallen. Eine spezielle Form von Mimikry, die er zeitlebens pflegte. Man traf ihn verlässlich auf Messen, Festivals, Pressekonferenzen. Gern grüßte er dann aus der Ferne. Ein Lächeln, ein Nicken, ohne dass er das laufende Gespräch unterbrochen hätte. Seit buchstäblich Jahrzehnten war er Teil einer Szene, deren jüngere Erosion ihn scheinbar nicht berührte. Er blieb sich treu, in seiner Art, seinen Vorlieben und Interessen, vor allem in der Weise, in der er sein Blatt durch den medialen Wandel navigierte: Einhandsegler, nicht Korvettenkapitän.
Hans-Eberhard Hess, am 28. Juni 1948 in Coburg geboren, gehörte dazu, war fast schon unverzichtbarer Teil der Fotocommunity. Als berufenes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie, als Mitglied in diversen Jurys, als Mitinitiator des Europäischen Architekturfotografie-Preises, als Redakteur und später Chefredakteur, als Verleger und Macher, als aufmerksamer Beobachter und Kommentator, Ratgeber und Scout hatte er einen Namen in der Branche. Man kannte ihn, aber kannte man ihn eigentlich? Er liebte den Auftritt ebenso wie die Nebelkerze, die er als Selbstschutz pflegte – lieber ein bisschen ein Geheimnis bleiben. Noch in seiner Heimatstadt Coburg, soviel ist bekannt, hatte er eine Fotografenlehre abgeschlossen, war im Anschluss als Bildreporter für das Coburger Tageblatt tätig und wechselte schließlich nach München, wo er an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie die Meisterprüfung absolvierte, um dann nicht in die fotografische Praxis, sondern in den Journalismus zu wechseln. Immerhin wusste er so, worüber er sprach, war im besten Sinne vom Fach, was auch bedeutete, dass er im Kern eine handwerklich saubere, überlegte, konzeptionell unterfütterte Fotografie vor allem anderen schätzte. Alles Trashige, Modische, Schlampige, Hochgejazzte war ihm ein Graus. Was nicht bedeutet, dass er sich innovativen Trends verweigert hätte. Im Gegenteil: Für Newcomer war immer Platz in seinem Blatt und seinem Denken.
Viele Jahre verband sich sein Name mit Color Foto, wo er als stellvertretender Chefredakteur wirkte, oder mit dem Fotomagazin, wo er die Bildredaktion leitete. Gern und nicht ohne Stolz erzählte er, wie er in dieser Zeit den legendären Willy Fleckhaus für die Gestaltung eines Portfolios von Andrej Reiser gewinnen konnte. Fleckhaus reiste an, layoutete in der Münchner Redation des Fotomagazins die Strecke, fuhr dann gleich weiter in sein Haus in der Toskana, wo er wenige Tage später einem Herzinfarkt erlag. Der im Dezemberheft 1983 publizierte Beitrag war folglich seine letzte Arbeit, von Hans-Eberhard Hess initiiert, begleitet und selbstbewusst in ein Heft gehoben, das eigentlich dem ambitionierten Amateur verpflichtet war. Aber das Besondere, durchaus Elitäre, das dem Mittelmaß Entwachsene, das war es, was ihn reizte. So gesehen wäre sein Platz tatsächlich bei Camera gewesen. Seit 1922 erschien die renommierte Schweizer Fachzeitschrift im Verlag C. J. Bucher. Seit 1966 machte sie Allan Porter zum viel beachteten Schaufenster einer vor allem amerikanischen Avantgarde. Nun suchte man neben Porter einen Redakteur für die neue Münchner Dependance. Die Wahl fiel auf Hans-Eberhard Hess, der noch bevor er sich hätte warmlaufen können, im Dezember 1981 von der Einstellung des Magazins erfahren musste. Es wurde eine Art lebenslanges Trauma, eine verpasste Chance, die ihn nicht hinderte, eigentlich eher motivierte, ab Mitte der 80er-Jahre auf seine Art Camera zu machen.
Mit Heft 2/1986 übernahm Hans-Eberhard Hess die Chefredaktion der traditionsreichen, unter dem Dach der Linhof-Kamerawerke erscheinenden Fachzeitschrift Photo Technik International. 1954 als Großbild-Technik von Nikolaus Karpf gegründet, zählte das Blatt zu den dienstältesten Magazinen seiner Art, ausgesprochen seriös, allerdings ein wenig trocken, sprich von einem etwas angestaubten Renommee. Zügig baute Hans-Eberhard Hess das Heft um, sorgte für eine zweimonatliche Erscheinungsweise, erweiterte das Themenspektrum und setzte entschieden auf Fotokunst und -kultur. Umfangreiche Portfolios, eine schnörkellose Gestaltung, ausgesuchte Fonds, ein guter Druck nebst sorgfältiger Redaktion, vor allem Aufgeschlossenheit gegenüber jungen, fotografierenden Autorinnen und Autoren charakterisierten ab nun ein Blatt, in dem die Technik – entgegen dem Versprechen des Titels – eine mehr und mehr untergeordnete Rolle spielte. Auch wenn es nicht jeder bemerkt haben dürfte, aber in Photo Technik International hatte Karl Lagerfeld als Fotograf seinen ersten Auftritt. PTI, so das Kürzel, entdeckte Seydou Keïta für einen deutschen Leserkreis, präsentierte Fotodesign (Gerhard Vormwald, Uwe Düttmann, Bodo Schieren) ebenso wie Fashion (David Bailey, Peter Knapp), Theater- (Heinz-Ludwig Böhme) ebenso wie Naturfotografie (Norbert Rosing), herausragende deutsche Fotografen (Klaus Kinold, Hans Hansen, Stefan Moses, Walter Schels) ebenso wie internationale Stars von Bruce Weber bis Greg Gorman, von Sandy Skoglund bis Bettina Rheims, von Neal Slavin bis Richard Avedon. Nicht zu vergessen Dieter Leistner, der mit seiner Klasse über Jahre das Gesicht der Zeitschrift prägte.
Den Wechsel des Magazins zum Hamburger Top Special Verlag mochte Hans-Eberhard Hess nicht mitgehen. Als das Heft wenig später erneut zum Verkauf anstand, griff er zu und wurde nun in Personalunion zum Verleger und Chefredakteur, unterstützt von einem kleinen Team, das alle zwei Monate für redaktionelle Überraschung sorgte. Sichtbarstes Zeichen für den Neustart war der geänderte Titel. Photo International, damit sollte der Schwerpunkt Kultur unterstrichen werden, mit detaillierten Berichten etwa von den Festivals in Arles, Cahors, Houson, Paris oder Madrid, mit ausführlichen Buchbesprechungen, Hinweisen auf Ausstellungen oder langen Interviews mit Größen der Branche wie der Fotografin Annie Leibovitz, dem Museumsmann Klaus-Jürgen Sembach oder dem Verleger Lothar Schirmer. Auch fundierte Beiträge zur Fotogeschichte waren, mit Namen wie Albert Renger-Patzsch, Robert Doisneau oder Dr. Paul Wolff & Tritschler, immer wieder im Heft zu finden. In Nummer 3/2021 schließlich ein umfangreicher Beitrag über Alexey Brodovitch, womit Hans-Eberhard Hess zum nunmehr letzten Mal bewies, dass sein Horizont sich nicht in der Fotografie an sich erschöpfte.
Hess lebte in München, aber bekennender Münchner wurde er nie. Er mochte Bayern, aber am liebsten da, wo man fränkisch kochte. Klöße zog er Knödeln vor, Schäufele jedem Schweinebraten. Er aß gern und sprach auch gerne übers Essen. Mit Wolfram Siebeck hätte er sich verstanden. Er liebte das Theater und die Oper, den Film und die Literatur, Italien und seine Renaissance. Fast nichts, über das man sich mit ihm nicht hätte unterhalten können. Den Fußball ausgenommen. Gern war er unter Leuten. Aber selbst Feste zu feiern, war seine Sache nicht. Er war präsent und abwesend zugleich. Kontaktfreudig, aber mit angezogener Handbremse. Rückblickend fiel sein Wirken in der Fotografie zusammen mit der großen Zeit der Fachzeitschriften, einer potenten Fotoindustrie, einem annähernd gesicherten Anzeigenaufkommen, gesponserten Reisen, großzügigen Einladungen, was bei ihm eine kritische Sicht auf die Branche nie ausgeschlossen hat. Erinnert man seinen Blick, sieht man ihn eher skeptisch, fragend. Im Grunde war er ein Blattmacher alter Schule, einer, der in Themen denkt, nicht in Rendite, auf Sprache achtet und bis ins letzte Komma redigiert, der Qualität verteidigt, auch in schweren Zeiten. Dass ihn der Kollaps der traditionellen Fotobranche, insgesamt der Paradigmenwechsel in der Fotografie nicht nur wirtschaftlich getroffen hat, wird man vermuten dürfen. Ob er Pläne hatte, ein Konzept? Lieber sprach er über Vergangenes. Seine Mitarbeit an der Ausstellung „Das Aktfoto“ 1985 im Münchner Stadtmuseum. Sein langjähriges Engagement in der Jury von „Pressefoto Bayern“. Seine Nähe zu Reinhart Wolff, den er zur Teilnahme am 1. Münchner Fotosymposion (1985) hatte bewegen können und dem er 1992 bei Ellert & Richter eine Monografie gestiftet hat. „Sein Leben“, formulierte Hess gleich zum Auftakt seines einleitenden Essays, „war Arbeit und Genuss. So akribisch er das eine betrieb, so lustvoll konnte er sich dem anderen hingeben.“ Sucht man nach einem Epitaph, Hans-Eberhard Hess, dem gelernten Fotografen, engagierten Blattmacher, Apologeten seines Mediums und nebenbei Genießer würde der Satz gerecht. Am 14. Mai 2021 ist er nach kurzer schwerer Krankheit überraschend für alle in München verstorben.
Hans-Michael Koetzle