Buchcover
Buchcover
Bettina Flitner: Meine Schwester

Ein Buch ausschließlich mit Text von der bekannten Fotografin. Gleichwohl Momentaufnahmen aus dem Gedächtnis, das zunehmend Erinnerungssplitter freigibt, je länger der Prozess des Schreibens dauert. Zu Beginn des Corona-Lockdowns setzte sie sich an ihr Laptop und legte los. Ungeplant, aber keineswegs planlos, holt Bettina Flitner nach dem Suizid ihrer Schwester die Erinnerungen an eine gemeinsame Kindheit zurück. Sie verflicht diese Episoden mit dem Tag, an dem sie versucht, ihre Schwester anzurufen, und von ihrem Selbstmord erfährt.

Und das ist nicht der einzige Suizid! Die Mutter hatte sich 33 Jahre zuvor, mit Mitte 40, bereits das Leben genommen, und kurz nach der Schwester bringt sich deren Ehemann um. Depression ist ein sich in der Familie mütterlicherseits durchziehendes und auch für die Kinder präsentes Krankheitsbild. Man erfährt daher weniger über die Familie väterlicherseits, den berühmten Großvater, Reformpädagoge Wilhelm Flitner, und den ebenfalls als Pädagoge in Tübingen lehrenden Onkel Andreas Flitner.

Bei diesem pädagogischen Hintergrund ist es kein Wunder, dass Bettina und ihre ältere Schwester auf die Waldorfschule gehen. Die Schwester in die Klasse von Herrn Timm, stets gekleidet in einen selbstgewebten Kittel. „Er ist Anthroposoph. Er macht keine Witze.“ Die Schwester schon. Sie verändert ein Gedicht von Christian Morgenstern, dem Lieblingsdichter der Antroposophen. „'Vom Zauber umweht, ein Knäckebrot geht ganz still in den Morgen hinab, der Mist, den ich sage, der Scheiß, den ich frage, er zieht uns alle herab.' Meine Schwester lächelte mich noch einmal zähnefletschend an.“

Sie habe nicht zu viele Anekdoten schreiben wollen, erzählt Bettina Flitner im WDR. Gerade diese unbeschwerten Momente und die detaillierte Erinnerung an die Kindheit und Jugend zeichnen das Buch aus. Spektakulär natürlich, als die Achtjährige in New York vom Vater in das Sesamstraßen-Studio mitgenommen wird und zu einem Empfang in der berühmten New School of Social Research in Greenwich Village. Eine kleine rauchende ältere Frau begrüßte die Eltern und Bettina wundert sich über deren Ehrfurcht vor ihr.

Ich hatte Kermit, den Frosch getroffen. Und er hatte mich umarmt. Da kommt doch im Leben niemand mit. Auch diese Hannah Arendt nicht.

Gleichwohl ist das Thema des wunderbar lakonisch erzählten Buches ein unvermeidlich schwermütiges. Wie geht man mit dem Freitod eines Familienmitglieds um. Kann man über einen Selbstmordversuch sprechen? „Warum wolltest du damals eigentlich nicht mehr leben?“ fragt die Autorin ihre Schwester. „Es fiel mir schwer, so direkt zu fragen, auch noch zehn Jahre danach. Es war zu spüren, dass ich mit meinen Fragen wie mit verschlammten Stiefeln über ihren frischgesaugten Teppichboden trampelte.“

Auffälligerweise ist immer von „meiner Schwester“ die Rede. Sollte in dem Buch ihr Name je genannt werden, dann so diskret, dass er sich beim Lesen geradezu verflüchtigt. Bettina Flitner kennen wir. Sich eine humorvolle und depressive Schwester vorzustellen, ist ganz und gar unserer Imagination beim Lesen überlassen.

Am Ende der gelungenen Erzählung gibt es keine Lösung. Das am 10. Februar 2022 bei Kiepenheuer & Witsch erschienene Buch (ISBN 978-3-462-00237-9) findet eine große Resonanz und steht bereits auf der Spiegel Bestsellerliste.     

Martina Mettner

Kategorie