Helga Paris Selbst im Spiegel, 1971
Helga Paris Selbst im Spiegel, 1971

Alles auf den Bildern dieser Fotografin ist belebt, atmet, fühlt: Menschen, Tiere, Häuser, Straßenzüge, Landschaften, Dinge. Man ist verführt zu sagen: Alles, was sie ansah, fühlte sich geliebt - wenn das nicht ein wenig übergriffig klingen, den Verdacht von Sentimentalität erwecken könnte. 

Denn beides war diese Fotografin wahrhaft nie. Aber sie schien über die Gabe zu verfügen, das, was sie ansah, in Zärtlichkeit zu hüllen, ihm Gutes zuzudenken. „Wiegenehrlichkeit“ nannte ihre Lebensfreundin, die Poetin Elke Erb, dies.

Helga Paris interessierte sich nicht für das schon Schöngemachte, das auf den Schein setzende. In den 1980er-Jahren hatte sie in Moskau die Stars des internationalen Kinos fotografiert: Robert De Niro, Hanna Schygulla, Anouk Aimée, nah und zugewandt. Für Paris waren diese Bilder schlicht Brotjobs. Sie hatten rein gar nichts zu tun mit dem, wovon sie erzählen wollte und musste. 

Im Mai 1938 in Goleniów geboren, wuchs Helga Paris in Zossen bei Berlin auf. 1942 hatte ihre Mutter mit der vierjährigen Helga und der wenig älteren Schwester auf der Flucht vor der sich gen Berlin bewegenden Front hier bei Verwandten Aufnahme gefunden. Es war ein trümmergesäumtes Reich der Frauen, indem Helga Paris aufwuchs. Der Vater war lange schon vermisst, bevor die Todesnachricht kam. Der Opa verhungerte. Die Brüder hatte der Krieg in die Fremde verschlagen. Dafür waren sowjetische Offiziere und Soldaten in Unzahl vor Ort - Zossen wurde Sitz des Oberkommandos der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Paris erzählte von Geborgenheit im Kreis der Frauen, von Vertrauen und von Furcht. 

Vermutlich bildet diese Melange, bereichert um Begegnungen mit den Bildern des neorealistischen Kinos, mit Bildern von Beckmann, Picasso, Bacon, den mentalen Grund ihres vielschichtigen fotografischen Werks. Immer wieder scheint Helga Paris dies - vor dem jeweiligen zeitgenössischen Hintergrund - neu auszuformulieren. Damit treffen ihre Bilder jene, die frei von Hochmut, um innere wie äußere Fragilität des Seins wissen. 

Helga Paris Ohne Titel, 1984 Aus der Serie Frauen im Bekleidungswerk VEB Treffmodelle Berlin

Die maroden Häuser im Prenzlauer Berg, am Hackeschen Markt, in Halle, in Georgien und Polen, auch der Leipziger Hauptbahnhof - es waren Überlebende. Die jungen Menschen, die sie 1982 in Berlin fotografierte, die Frauen in der Textilfabrik, die Menschen in Georgien und in Siebenbürgen, die jungen Männer im römischen Bahnhofsviertel, die Frauen in Polen, ja auch die zuletzt auf dem Alexanderplatz Fotografierten - sie alle scheinen Wissende zu sein. In „Wiegenehrlichkeit“. 

Es ist erstaunlich, auf welche Weise Helga Paris das Medium und seine Präsentationsweisen auch in ihren späten Jahren immer wieder neu erfand. Kameraführung, Format, Schärfe und Rahmung entschieden sich scheinbar ganz und gar intuitiv aus dem Verhältnis zwischen ihr und ihrem jeweiligen Gegenüber. Als sie 2019, in ihrer großen Ausstellung in der Akademie der Künste, vor der Arbeit Zossen stand, die sie 1994 an ihren 45 Jahre lang unzugänglichen Kindheitsorten fotografiert hatte, konnte sie die Größe der 25 Jahre zuvor von ihr erstellten Abzüge kaum fassen. 

Dem Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, in den sie 1966 mit ihrem damaligen Mann, dem Maler Ronald Paris, gezogen war und wo sie auch ihre beiden Kinder aufgezogen hatte, blieb sie bis ans Ende treu. Am 5.2.2024 ist die große, autodidaktische Einzelgängerin der deutschen Fotografie, die nie einer fotografischen Schule angehörte und die sich vermutlich den zahlreich porträtierten malenden, dichtenden und Theatermenschen stets näher gefühlt hatte als Berufskolleg*innen, nach nahezu 86 Lebensjahren gegangen. Sie hinterlässt ihre Familie, liebende Freunde und Freundinnen und einen Bilderschatz, der auf unvergleichliche Weise eine „Chronik der Gefühle“ des langen deutschen Nachkriegs in die Zukunft trägt. 

Inka Schube, Kuratorin für Fotografie und Medienkunst, Sprengel Museum Hannover, 5.2.2024

 

2019 wurde Helga Paris mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie ausgezeichnet. Zum Beitrag