Am 29. und 30. Juni 2012 fand im Schloss Wolfsburg die interdisziplinäre Tagung „Der Gang der Dinge. Welche Zukunft haben photographische Archive und Nachlässe?“ statt. Veranstalter waren die Sektion Kunst, Markt und Recht in Kooperation mit den Sektionen Bild, Geschichte und Archive sowie dem Institut Heidersberger (Wolfsburg) und dem Netzwerk Fotoarchive e.V. (Köln). Fachleute und Nachwuchsakademiker*innen aus Deutschland und Europa sollten Herangehensweisen und neue Lösungsansätze für den zukünftigen Umgang mit photographischen Nachlässen und Sammlungen vorstellen und erörtern. Die Ergebnisse konnten 2013 dank einer Förderung durch die Stiftung Kunstfonds der VG Bild-Kunst, Bonn, publiziert werden.
Auslöser für das Symposium war die zunehmende Sorge von Photograph*innen, Sammler*innen und ihren Erben, wie sie eine Weitergabe und Vererbung ihrer Vor- bzw. Nachlässe und Sammlungen in einem Land bewerkstelligen sollen, in dem Museen fast ausnahmslos und schon länger an den Grenzen ihrer finanziellen und personellen Möglichkeiten arbeiten und sich daher nur bedingt für die Aufnahme von Nachlässen eignen. Vor allem aber fehlte – zumindest zum Zeitpunkt der Tagungsvorbereitungen – immer noch eine zentrale Anlaufstelle, die Kompetenzen bündelt und das national wertvolle Erbe sichert, bevor es, wie in zu vielen Fällen schon geschehen, auf den Müll oder ins Ausland wandert.
Vorgestellt wurden zwei neue Initiativen in Polen und Frankreich: Die Warschauer Stiftung Archeology of Photography Foundation mit einem Modell für den Umgang mit Archivbeständen, die weiterhin im Besitz der Familien bleiben, doch zugleich auf verschiedenen Wegen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; die staatliche französische Kulturbehörde „Mission de la photographie“ mit ihrer 2012 frei geschalteten Datenbank AraGo, die auf Dauer die bedeutendsten Sammlungsbestände Frankreichs für die Öffentlichkeit und die Forschung zugänglich machen will. Die französische Autochrome-Sammlung „Les Archives de la planète“ machte als historisches Beispiel klar, wie ein Bestand in völlig anderen als ursprünglich gedachten Zusammenhängen gesehen und ausgestellt werden kann, wenn er musealisiert ist.
Im föderalen Deutschland war die Idee einer nationalen Anlaufstelle aufgrund ihrer zentralistischen Ausrichtung stark umstritten und deshalb lange nicht in Sicht. Die Initiativen des Sammlers Manfred Heiting für ein Centrum für Photographie (DCP) (1999/2000) und F. C. Gundlachs 2006 gestarteter Aufruf zur Gründung einer Deutschen Stiftung Photographie verliefen daher im Sande. Deshalb kam das in Wolfsburg erstmals vorgestellte Lösungskonzept für ein „Archiv der Fotografen“ in der Deutschen Fotothek, Dresden, einer Sensation gleich. Darin eingeschlossen war die Kooperation mit dem bereits 2010 entwickelten, dezentralen Netzwerk Fotoarchive e.V., Köln.
Die Tagung führte aber auch vor Augen, dass Deutschland trotz seiner Defizite dennoch auch ein Land ist, in dem es funktionierende Strukturen gibt, teils mit überregionaler Orientierung, teils als regional verankerte Initiativen und Institutionen. Einige wurden unter speziellen Fragestellungen vorgestellt: die Rettung des Nachlasses der Alfelder Photographenfamilie Püscher, seine Bedeutung für die Region und mühselige Lernprozesse auf dem Weg zur Institutionalisierung; die neueren Entwicklungen in der Archivierung und Dokumentation kunsthistorischer Photo-Nachlässe am Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg an der Philipps-Universität Marburg.
Am Beispiel des „Archivs für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds“, Brauweiler, und des Stadtarchivs Bonn ging es um die Frage, wie und nach welchen Kriterien gesammelt oder aussortiert wird und warum. Zum Thema Überleben einer privaten Stiftung wurden das mit überschaubaren Mitteln operierende Institut Heidersberger in Wolfsburg der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin gegenübergestellt, die gedankliche Modelle durchspielte, wie sie unter bestimmten Annahmen in der Zukunft überleben kann.
Die DGPh-Tagung setzte bewusst eine breite Palette von Fragestellungen auf ihr Programm. Dazu gehörten auch praktische Themen wie die einer angemessenen Aufbewahrung, der Bewertung von Bildern und Dokumenten und der juristischen Konstruktionen für eine Weitergabe.
Fotografen-Nachlässe und Fotografie-Sammlungen sind Depots der Erinnerung von exemplarischem Charakter. Sie werden erst von denjenigen zum Leben erweckt, die sie als bewahrenswertes Kulturgut erkannt haben, an das Fragen gestellt werden können. Die Entscheidung über ihren Erhalt liegt in Händen derer, die Maßnahmen ergreifen, sie zu sichern, zu erschließen und öffentlich zugänglich zu machen. Welche Bilder Geschichten erzählen können, hängt davon ab, welche Fragen an sie gestellt werden. In der Summe bilden Fotograf*innen-Nachlässe Prozesse ästhetischer Kulturgeschichte ab. Damit leisten Archive Entscheidendes für die Konstruktion von Erinnerung und Umdeutung von Geschichte. Deshalb muss auch bewahrt werden, was nicht der Mode und dem herrschenden System folgt.
Christiane E. Fricke