Zeugen der Zeit. Dirk Vogel

Aktuell werden die Ausstellungen von Dirk Vogel (*1969, DGPh) und Uwe Steinberg gezeigt, die sich beide mit den Bürgern der ehemaligen DDR auseinandersetzen. Vogel zeigt die Bürger*innen an den Orten ihrer Stasihaft in Berlin-Hohenschönhausen und Steinberg das Alltagsbild der Bürger*innen in Berlin (Ost, 1963-1983). So entstehen für den Betrachter zwei gänzlich unterschiedliche Seiten des gleichen Staates. Beide Fotografen erschaffen Bildmotive von großer Dichte und Signifikanz, die eine allmählich verblassende Welt – die DDR der 1970-1980er Jahre – vor unseren Augen wiedererstehen lassen.
Das Thema Zeitzeugen beschäftigt Dirk Vogel seit mehreren Jahren. In seinen Werkserien zeigen individuelle Porträts ganze Lebensgeschichten und repräsentieren gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte – eine Verbindung von persönlichen und nationalen Ereignissen. So hat er bereits im Bildband ‚Augenblicke‘ (2003) 75 Porträts den Lebenswegen Deutscher jüdischen Glaubens gewidmet, und zwar vom kleinen Berliner Schulmädchen bis zum Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und damit einen gesellschaftlichen und historischen (1933-2003) Querschnitt erstellt. Es folgte 2011 das Buch ‚Gesichter der Friedlichen Revolution‘ das in 63 Porträts den Männern und Frauen der DDR-Bürgerrechtsbewegung ein Gesicht gab, die das friedliche Ende der SED-Diktatur herbeiführten.

Folgerichtig hat er jetzt eine Werkserie mit den Orten der politischen Unterdrückung und den Opfern der politischen Verfolgung in der DDR vorgelegt. Genannt als Zeugen der Zeit werden 20 Männer und Frauen porträtiert, die unterschiedlich lange in der zentralen Untersuchungshaftanstalt der DDR-Staatssicherheit (Stasi) in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert waren. Man kann in den Gesichtern immer noch die Willkür, menschenunwürdigen Haftbedingungen und vor allem die psychische Folter ablesen, der sie dort ausgesetzt waren. Heute haben die Opfer den Ort symbolisch in Besitz genommen, in den sie zurückgekehrt sind und über das Erlebte sprechen, was die Porträts dokumentieren.

Dirk Vogel hat seine Werkserie sorgfältig konzipiert, um einen Spannungsbogen von der Person zur Zeitgeschichte zu erzeugen. Dabei ist er darauf aufmerksam geworden, dass bei der Inhaftierung drei erkennungsdienstliche Fotografien von der Person gemacht werden (Frontal- linke/rechte Seitenansicht). Dies hat ihn dazu inspiriert diesen dreier Zyklus seiner Porträtserie zu Grunde zu legen. Neben dem Frontalbild vor der Mauer der Gedenkstätte (mit Angabe des Namens und des Berufs) haben die porträtierten Zeitzeugen (auf einer weiteren Doppelseite) jeweils einen Ort gewählt, mit dem sie ein besonderes Ereignis/Erinnerung verbinden. Dies kann ihre ehemalige Zelle, der Verhörtisch (auf der Seite des Inhaftierten oder auf der Seite des Verhörenden), der Kontrollgang über den Freiluftzellen, der erkennungsdienstliche Stuhl, die Klappe der Zellentür sein. Jedes Porträt ist mit einer Bildlegende versehen, die Dauer der Haft und der Haftgrund nennt und ein Zitat des oder der Inhaftierten. Besonders eindrucksvoll das Porträt der Künstlerin Angelika Margull mit den Zellenschlüsseln in Hand – Traum während ihrer Haftzeit – wieder selbstbestimmt handeln zu können.

Die Bildästhetik ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel der optischen Wahrnehmungsschärfe, die Wahrnehmung als Zweck der Fotografie, die dieser eine Bedeutung verleiht (Susan Sontag) und den Betrachter zur gezielten Reflexion anregt. Die Motive sind von großer Dichte und Aussagekraft und lassen beim Betrachten eine scheinbar in Vergessenheit geratene Welt - den Alltag in der SED-Diktatur - wieder lebendig werden. In den Fotografien von Dirk Vogel lebt die Geschichte aller Zeitzeugen und die Verpflichtung zur Erinnerung und Verteidigung der Demokratie weiter. Mit den Worten des inhaftierten Gilbert Furian „Wir wissen heute gar nicht mehr was Freiheit bedeutet, weil wir sie jeden Tag haben …..“

Der Gedenkstätte Hohenschönhausen gebührt Anerkennung, dass sie diese wichtige Werkgruppe des Fotografen Dirk Vogel (*1969) mit einem Buch ehrt und so zwei Phasen der Verfolgung in den letzten 90 Jahren in Deutschland eine würdige Erinnerung gibt. Das Buch ist als zeitgeschichtliches Zeugnis über die Fotografien hinaus durch die Biografien der Zeitzeugen und den Text von Evelyn Zupke (Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur) eine wichtige Neuerscheinung. Ohne das Engagement der Zeitzeugen und des Fotografen Dirk Vogel hätten wir keine Möglichkeit uns mit den Orten und Ereignissen unserer jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen.

Eine gelungene Publikation, die schön gestaltet mit einer sachlich funktionalen Buchgestaltung, der gezeigten Werkgruppe künstlerisch gerecht wird. Diese themenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Autorenfotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregen. Das Buch zeigt ein weiteres Mal, dass künstlerische Fotografie neue Perspektiven schafft und einen Austausch ermöglicht, der auch historische und gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar macht.  (db)

Ausstellung bis 2. Juli 2023 in der „Kapelle der Versöhnung“ (Berlin)

Zeugen der Zeit
Dirk Vogel

Hrsg.: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen
Vorwort Helge Heidemeyer, Evelyn Zupke
Texte von Elise Catrain
Deutsch
Buchgestaltung Festeinband
120 Seiten, circa 80 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
Eigenverlag, Berlin
ISBN 978-3-949769-02-3
19,90 €