Das Buch zeigt deutlich, dass die These „Die Fotografie ist eine Sprache, die in der ganzen Welt verstanden wird.“ von Andreas Feininger in dieser Absolutheit nicht einmal innerhalb Europas zutrifft. Beim Durchblättern des Buches empfindet man den Bezug zu nordischen Sagas, es ist eine von schwermütigen Themen belastete Darstellung (Kapitelnamen) einer faszinierenden Landschaft und der darin lebenden Tiere und Menschen.
Einzelne Fotografien führen direkt zu literarischen Assoziationen wie „Der Ruf der Wildnis“ (S. 78, 88 Jack London) oder Knut Hamsuns „Segen der Erde“ (S. 38, 46, 48, 49, 51) und zeigen, dass es zwischen mitteleuropäischer und nordischer Fotografie Unterschiede gibt, wenn es auch in grafischen, künstlerischen Aspekten der Darstellung von Strukturen (Werkserie Glacier) Parallelen gibt.
Die hier gezeigten Werkserien des Isländer Ragnar Axelsson (*1958), u.a. Faces of the North (Gesichter des Nordens), Glacier (Gletscher) und Last Days of the Arctic (Letzte Tage der Arktis), Behind the Mountains (Hinter den Bergen) und „Black landscape „Schwarze Landschaft“ (erstmals gezeigt) zeigen eine Ist-Situation, die den Wandel in der täglichen und traditionellen Realität der nordischen Regionen, den ökonomischen und sozialen Wandel in den aktuellen arktischen Regionen und die Suche nach Lebensmodellen und Identität erahnen lässt.
Ganz anders dagegen die harten SW Strukturen der Gletscheroberflächen (S. 112-131), die an das „Watt“ von Alfred Ehrhardt und das „Meer“ von Detlef Orlopp erinnern/anknüpfen und von großer grafischer Schönheit sind (Serie Glacier).
Die Werkserie „Schwarze Landschaft“ nimmt Bezug auf die Klimaveränderungen aber auch nur indirekt, indem sie zeigt, wo diese Veränderungen eintreten könnten und was dann an Landschaft entfällt.
Die Werkserien des Buches „Where the World is Melting“ lassen ein nuanciertes Bild der arktischen Natur entstehen, zeigen aber auch den langsam, aber stetig sich wandelnden Alltag der Inuit-Jägern (Nordkanada, Grönland), der Bauern und Fischern (Island, Färöer-Inseln) und der indigenen Bevölkerung in Nordskandinavien und Sibirien auf der Suche nach Orientierung und Identität. Es ist eine mythologische Fotografie, die große Gefühle weckt und eher indirekt auf den Klimawandel verweist indem sie landschaftliche Schönheit zeigt die verloren gehen könnte.
Ein empfehlenswertes Buch als Dokument der gewandelten Alltagskultur der arktischen Regionen im 21. Jahrhunderts und gleichzeitig ein Überblick über Axelssons Lebenswerk in der Fotografie. Für zeitgeschichtlich interessierte Leser und Fotografen ein gleichermaßen interessantes Buch, das schön gestaltetet ist mit einer sachlich funktionalen Buchgestaltung, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und Einblick in eine andere vielschichtige Landschaft und ihre fotografische Interpretation gibt. (db)
Ausstellung bis 13.03.2022 im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung (München)
Where the World is melting
Fotos: Ragnar Axelsson
Hrsg.: Isabel Siben
Texte von Ragnar Axelsson, Isabel Siben
Englisch mit deutschem Textheft
Buchgestaltung Festeinband
224 Seiten, 149 Duplexabbildungen
Kehrer Verlag, Heidelberg
ISBN 978-3-96900-064-9
49,90 €