Das Buch »West-Berlin« mit den Fotografien von Gottfried Schenk ist ein zeitgeschichtliches Dokument der Stadt und ein Beispiel für die journalistische Stadtdokumentation einer bestimmten Epoche. Nicht von ungefähr bezieht er sich auf die Fotografien von Heinrich Zille in dessen ehemaligem Kiez dem „Zille-Milieu“ er lebte. Wie dieser das Arbeitermilieu der Kaiserzeit dokumentiert, hat Schenk das Berlin Milieu des antibürgerlichen libertären Lebens mit Gleichgesinnten, die politischen Aktivitäten und neuen Lebens- und Liebesformen in den 1970er und 1980er Jahren festgehalten. Die Subkulturen in den „Kiezen“ der Stadt das hochpolitische Leben in den Bezirken Kreuzberg, Schöneberg und Charlottenburg, Hausbesetzungen und Mieterkampf sind Phänomene, die uns heute wieder sehr aktuell erscheinen.
Dieses Milieu aber auch den Alltag der Kinder und Straßenfeste zeigt Schenk in circa 200 Schwarzweiß und Farbfotografien, die mit Texten von Zeitzeugen und persönlichen Erinnerungen von Anwohnern ein Bild der Stadt von den Studentenrevolten bis zur Vereinigung der beiden Stadthälften 1990 ergänzt werden. Die Fotografien Gottfried Schenks werden von dem Text (Vorwort) des Fotohistorikers Enno Kaufhold in einen kunsthistorischen Kontext gestellt. Nach der Wiedervereinigung 1990 war eine große Identitätssuche auch in der Fotografie ein Thema, bis heute gibt es dazu thematisch „Landschaften und Baukunst“, „Orte und ihr historischer Hintergrund“, „Landschafts- Architektur und Geschichts-Impressionen“ - sehr unterschiedliche Beiträge. Zuletzt wurde in dieser Rubrik dazu der Bildband »An Tagen wie Diesen « von Hans-Jürgen Burkard, ebenfalls ein Bildjournalist vorgestellt. Er hatte wie Gottfried Schenk (Österreicher) durch seine 30jährige Auslandstätigkeit (GEO, STERN, Reportagen vom Zerfall der UdSSR) einen Blick von außen auf Deutschland.
Die Klassiker in diesem Sujet sind zweifellos „Das Bild der Heimat“ von Herbert List und „Deutsche West“ und „Deutsche Ost“ von Stefan Moses, die beide Klassiker der Schwarzweiß-Fotografie und von unerreichter Prägnanz und Detailinformation sind. Eine interessante Publikation, als Dokument der Entwicklung des Berlin-Bildes (seit den 1970er Jahren) und dessen Bezüge zum klassischen Fotojournalismus. Das Buch regt mit seinem interessanten Blick, Texten und persönlichen Impressionen Kulturwissenschaftler und Fotografen gleichermaßen zum Nachdenken über die Fotografie und ihre Möglichkeiten zur Identitätsstiftung an. Das Buch ist nicht nur ein gelungener Erinnerungsband eines bewegten Abschnitts der Berlin Geschichte, sondern für den ambitionierten Amateurfotografen auch eine schöne Anregung für einen eigenen Fotorundgang im Berlin der 2020er Jahre. (db)
West-Berlin Kiez & Subkultur 1975 – 1990
Photographien von Gottfried Schenk
Hrsg.: Edition Braus
Texte von Enno Kaufhold, Peter Markhoff, Tine Preuß, Lilo Rössler
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Festeinband
240 Seiten, circa 195 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
Edition Braus, Berlin
ISBN 978-3-86228-231-9
29,90 €