Das Buch 'Wandern in Geschichte' ist eine weitere Publikation, die sich mit der Fotografie von Ulrich Wüst auseinandersetzt. Geprägt ist seine Sichtweise durch die deutsche Teilung und deren Überwindung, den Aspekten in gesellschaftlichen Veränderungen und materiellen Erscheinungsformen, die Wüst in scheinbar alltäglichen, aber sehr präzise komponierten Bildaussagen erkennbar werden lässt. Es sind genau beobachtete Orte/Situationen die streng formal komponiert eine andere Wirklichkeit der jüngeren deutschen Geschichte zeigen. Es werden 11 Themenserien vorgestellt, die jeweils in Abbildungen auf mehreren Seiten mit kurzen Bildunterschriften präsentiert werden. So erhält der Betrachter einen fundierten und umfassenden Einblick in die Werkserien und kann selbst analysieren und sich eine Meinung bilden.
Das fotografische Werk von Ulrich Wüst wird in 11 Werkgruppen in dieser Reihenfolge „Stadtbilder 1979-1985“ (S. 19), „Die Pracht der Macht 1983-1990“ (S. 25), „Notizen 1984-1986“ (S. 86-96), „Nachlass Wiegmann. Bülowssiege 1991-1992“ (S. 33), „Mitte, Berlin 1995-1997“ (S. 37), „Morgenstraße, Magdeburg 1998-2000“ (S. 41), „Flachland Schönhof 2013“ (S. 45), Randlage - Die Gemeinde Nordwestuckermark 2014-2019“ (S. 49), Prenzlau 2018 (S. 53), Roter Oktober 2018 (S. 57), „Jahrebuch 1978-2008“ (S. 61) vorgestellt.
Ein Highlight in diesem Buch sind die beiden auf mehreren Seiten abgebildeten handgefertigten Leporellos (in Analogie zu den topografischen Ansichtsalben des 19. Jahrhundert.), die weiteren Aspekte der Werkserien von Ulrich Wüst zeigen und interessante Einblicke in seine Arbeitsweise und sein mediales Verständnis von Fotografie geben. Es ist weder dokumentarisch noch rein illustrativ, sondern zeigt im Sinne von Walker Evans und Robert Frank einen persönlichen Standpunkt, einen [fotografischen] Stil und so eine eigene visuelle Handschrift.
Das Leporello „Die Pracht der Macht“ (S, 25-27) zeigt auf Doppelseiten die von Wüst erkannten Gegensätze z.B. Kirchenrosette zu Hammer und Sichel im Ährenkranz, paradierende Soldaten zu dem Kopf von Marx, der Luxusklassewagen vor der monumentalen Nische.
Das Leporello „Roter Oktober“ (S. 57-60) zeigt auf Doppelseiten die von Wüst erkannten Antagonismen - von Anspruch und Wirklichkeit z.B. Fabrikarbeiter zu paradierende Soldaten, stalinistische Architektur zu Kirchenarchitektur, Panzer am sowjetischen Ehrenmal zu Panzern am 17. Juni.
Die Beobachtungen, die er in seinen Bildern festhält, mögen letztlich ihre Wurzeln in der deutschen Teilung und deren Überwindung haben. Sie betreffen jedoch immer auch universelle Phänomene gesellschaftlicher Wandlungen und deren materielle Erscheinungsformen.
Ergänzt wird dieser Bildteil durch eine informative Einführung von Matthias Flügge in das Werk und Leben von Ulrich Wüst, einem Publikations- und Ausstellungsverzeichnis, den Fußnoten und der Danksagung.
Diese themenreiche Retrospektive eröffnet die Möglichkeit, das fotografische Werk von Ulrich Wüst aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Die scheinbar lapidaren, höchst präzise komponierten Bilder sind Ergebnis langer visueller Wanderungen in gegenwärtigen Orten der jüngsten Geschichte. Sie regen zum Nachdenken über die Autorenfotografie und ihre dokumentarischen Möglichkeiten an. Aktive Fotograf *innen sind aufgefordert zum Diskurs über die Möglichkeiten und stilistischen Varianten konzeptueller Photographie im Stil eines „Magischen Realismus.“ Das Buch zeigt ein weiteres Mal, dass künstlerische Fotografie neue Perspektiven schafft und einen historischen Austausch ermöglicht. (db)
Ausstellung des ifa Institut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart)
Wandern in Geschichte. Die Fotografie von Ulrich Wüst
Ulrich Wüst
Hrsg.: ifa (Institut für Auslandsbeziehungen)
Texte von Matthias Flügge
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung fadengebundener Festeinband
84 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
Spector Books Verlag, Leipzig
ISBN: 9783959057622
34,00 €