Vertrauliche Distanz - Barbara Niggl Radloff

Der Buchtitel 'Vertrauliche Distanz' charakterisiert genau die Fotografien von Barbara Niggl Radloff aber besonders ihre Porträtstudien sehr deutlich. Sie hat als Bildjournalistin für die Süddeutsche Zeitung im Feuilleton z.B. 'Katzenkonzert' ihre Tätigkeit begonnen. In der späteren intensiven Auseinandersetzung mit dem Künstlerporträt in München hat sie ein eigenständiges beeindruckendes Œuvre erstellt. Zeitgeschichtlich interessant sind ihre Fotografien der 50er Jahre, die bereits ein anderes München zeigen als das München (1945/46) von Herbert List. Sie hat wie dieser Stadtsituationen der Nachkriegszeit fotografiert und Reportagen für die Süddeutsche Zeitung, die Münchner Illustrierte, twen und die Zeitschrift Scala International erstellt.  Ausgebildet am 'Institut für Bildjournalismus' (München), hatte sie erste Veröffentlichungen in der Süddeutschen Zeitung und war ab 1960 Verlagsfotografin der Münchner Illustrierten  mit Serien wie 'Pudelschau' und 'Freibankfleisch'.

Ihre Porträts des Münchner Kulturlebens in der Nachkriegszeit sind beeindruckend  - darunter Maler, Schriftsteller, Philosophen von internationalem Rang mit illustren Namen wie Erich Kästner, Hannah Arendt, Carl Zuckmayer, Max Horkheimer, Asger Jorn, Heinrich Böll, Günter Grass oder Truman Capote. Aber auch subtile Studien des/der Kollegen*innen z.B. von Otto Steinert und Liselotte Strelow sind „Denk- und Imagiationsräume für die Betrachtenden.“ Ab der Mitte der 1970er Jahre arbeitete sie u.a. als Hausfotografin des Künstlerdomizils Villa Walberta in Feldafing und schuf sehr individuelle Porträts, die den Betrachter zu Interesse (G. Grass als stolzer Papa) und Empathie für die dargestellten Künstler und Literaten anregen.

Es ist ein erfreuliches Zeichen, dass das Negativ-Archiv (50.000) und circa 2.500 Papierabzüge der Fotografin 2018 in die Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums durch Nachlass-Schenkung der Familie gelangten. Dies macht deutlich wie wichtig ein 'Bundesinstitut für Fotografie'  ist, das unabhängig von einer Schule oder Stilrichtung generell aktiv ist. Es könnte sich auch um die Bewahrung von Nachlässen kümmern und für Retrospektiven zentraler Akteure des Bildjournalismus und herausragender Porträtfotografie tätig werden.

Ein sehr empfehlenswertes Buch als Dokument des Bildjournalismus in den 1950/1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aber auch für die Entwicklung des Künstlerporträts und dessen stilistischen Impulsen für die Fotografie. Für zeitgeschichtlich interessierte Leser, Kunstwissenschaftler und Fotografen ein gleichermaßen interessantes Buch, das das Gesamtwerk der Fotografin im Zusammenhang des zeitgenössischen Pressewesens „1960er Jahre“ zeigt und interessante Vergleiche zur heutigen Mediensituation gibt. Insgesamt eine besonders gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und den Liebhaber des Fotografie-Buches durch eine besondere Note erfreut. (db)

Ausstellung bis 20. März 2022 in der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseums (München)

Vertrauliche Distanz
Fotografien von Barbara Niggl Radloff 1958-2004

Hrsg.: Ulrich Pohlmann und Maximilian Westphal
Texte: Hans-Michael Koetzle, Verena Nolte, Elke Strittmatter, Ulrich Pohlmann und Maximilian Westphal
Deutsch
Buchgestaltung Broschur
160 Seiten, 130 Tafeln in Duotone und Farbe, 30 Abbildungen
Schirmer/Mosel Verlag, München
ISBN 978-3-8296-0923-4
39,80 €