Weltweit gibt es unzählige Künstler, jedweder Coleur, die Ihre Karrieren dem deutschen Publikum verdanken. Weit vor ihrer Anerkennung im Rest der Welt. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet einer der bedeutendsten Künstler der Niederlande, nämlich Erwin Olaf, erst jetzt, über 35 Jahre nach seiner ersten Publikation (Chessmen) eine großangelegte Retrospektive in der Kunsthalle München bekommt. Jetzt gibt es endlich die Gelegenheit, diese fulminante Ausstellung zu besuchen. Die Ausstellung gehört sicherlich zu den absoluten Highlights diesen Jahres. Ein Glücksfall für die Kunsthalle München. Behutsam kuratiert. Die Videoinstallationen sind alleine schon einen Besuch wert.
Den hervorragend gedruckten Katalog sollte man sich auf jeden Fall sichern. In den Niederlanden gehört der Fotograf Erwin Olaf (*1959) zu den berühmtesten Künstlern der Gegenwart. Ausgewählte Fotografien, Videos, Skulpturen und Multimediainstallationen aus vierzig Schaffensjahren zeigen in loser Chronologie Olafs Entwicklung vom analog zum digital arbeitenden Künstler, vom rebellischen Foto-Journalisten der 1980er- zum raffinierten Geschichtenerzähler der 2000er-Jahre.
INSZENIERTE WELTEN
Erwin Olaf ist ein Meister der inszenierten Fotografie. Für die Verwirklichung seiner Serien arbeitet er unter anderem mit Bühnen- und Maskenbildner*innen zusammen. Er erschafft eigene Welten, die unserer Alltagswelt zum Verwechseln ähneln und dennoch Rätsel aufgeben. Hinter ihrer makellos-plakativen, aus Film- und Werbeindustrie entlehnten Ästhetik werden gesellschaftskritische Fragen nach Selbstbestimmung, Gleichberechtigung oder Demokratie verhandelt. Bewusst gestaltet Olaf die Erzählungen seiner Bilder bedeutungsoffen: Es bleibt den Betrachter*innen überlassen, sich den Anspielungen gegenüber zu öffnen und die Leerstellen mit eigenen Assoziationen und Interpretationen zu füllen.
ZWISCHEN POLITIK UND POESIE
Wie ein roter Faden zieht sich Olafs politisches und soziales Interesse durch sein gesamtes Œuvre. Bei seinem engagierten Einsatz für eine tolerantere Gesellschaft schreckt er vor keiner Kontroverse zurück. Besonders in seinem Frühwerk setzte er dabei auf das Mittel der Provokation. Auch in seinem aktuellen Schaffen bezieht er sich auf polarisierende gesellschaftliche Debatten, wie etwa über den Klimawandel, Flüchtlingskrisen oder die Covid-19-Pandemie. Seit den 2000er-Jahren schlägt der Künstler jedoch ruhigere Töne an und nimmt Gefühle und Stimmungen in den Fokus – wie etwa den Moment nach einer erschütternden Nachricht, in dem sich die Trauer Bahn bricht (Grief, 2007) oder den unbestimmten Schwebezustand des Wartens (Waiting, 2014).
VORBILD MALEREI
Bereits in seinem Frühwerk ließ sich Olaf von den Gemälden alter Meister, wie den Selbstbildnissen Rembrandts, inspirieren (Ladies Hats, 1985–2020). Auch bei seiner neuesten Serie Im Wald (2020), die er eigens für die Ausstellung in der Kunsthalle München in den bayerischen und österreichischen Alpen fotografierte, stand die Malerei Pate. Hier waren es vor allem Künstler des 19. Jahrhunderts, wie etwa der Romantiker Caspar David Friedrich, der Symbolist Arnold Böcklin oder der Münchner Malerfürst Franz von Lenbach, an denen er sich orientierte. Durch diese Anleihen sowie eine besonders ausgefeilte Lichtführung erlangen Olafs Fotografien bisweilen eine fast malerische Qualität.
ZWISCHEN FAKT UND FIKTION
Das Ausloten des Verhältnisses zwischen Fakten und Fiktionen ist bis heute ein wesentliches Merkmal von Olafs künstlerischem Schaffen. Seit Beginn der 2000er-Jahre nutzt er zu diesem Zweck auch die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung. So inszenierte er in seiner Serie Royal Blood (2000) seine Modelle als berühmte Unfall-, Anschlags- und Mordopfer der Weltgeschichte: von Sissi bis Prinzessin Diana. Es entstanden Bilder, die auf eindrückliche Weise die Möglichkeit visueller Manipulation offenlegen. Was erkennen wir und wie werden wir zu dieser Erkenntnis verleitet? Das ist eine Kernfrage von Olafs Schaffen, in dem er stets auch die Macht der Bilder in unserer Gesellschaft hinterfragt.
Ausstellung: Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München; bis 26.09.2021
Erwin Olaf
Unheimlich schön
Hrsg.: Roger Diederen, Anja Huber, Kunsthalle München
Text(e): Daniel Hornuff, Anja Huber, Claudia Peppel, Franziska Stöhr, Estelle Vallender
240 Seiten mit 300 Abbildungen
24,00 x 30,00 cm
Hardcover
Hatje Cantz Verlag, Berlin
ISBN 978-3-7757-4879-7; 40,00 € deutsch
ISBN 978-3-7757-4921-3; 44,00 € englisch