Michael Schmidt - Fotografien 1965 - 2014

Die Retrospektive des photographischen Werks von Michael Schmidt (1945–2014) war nach den Publikationen „Werkstatt für Photographie“ und „Fotografien werden Bilder“ zum BAUHAUS und der „Neuen Sachlichkeit“ zwingend erforderlich. Denn er hat mit seiner „Werkstatt für Photographie“ (1976-1986) und seinen Werkserien eine ganze Photographie Generation inspiriert. Diese Bedeutung in der deutschen Gegenwartsphotographie wird jetzt mit der chronologischen Präsentation seines Gesamtwerks im Museum Hamburger Bahnhof (Berlin) gewürdigt. Diesem Aspekt wird auch dadurch Rechnung getragen, dass die Autoren der Katalogbeiträge alle mit dem Künstler in verschiedenen Projekten zusammengearbeitet haben. Dadurch ergibt sich eine besonders intensive Betrachtungsweise und Auseinandersetzung mit den Werkserien.

Seine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit hat er bei jeder Werkgruppe „Porträts, Selbstporträts, Stadtlandschaften, Landschaften und Stillleben“ aus einer anderen Perspektive und mit einer individuellen photographischen Methode durchgeführt. Auch für den Schmidt Kenner geben neben den Werkgruppen „Waffenruhe (1987), Ein-heit (1996), Lebensmittel (2012)“ besonders die bisher unveröffentlichten Arbeitsabzüge, Buchentwürfe und Archivmaterialien einen umfassenden Überblick von Schmidts künstlerischen Intentionen, die bis heute auf die zeitgenössische Photographie nachwirken.

Als Michael Schmidt in seiner Heimatstadt Berlin mit der Photographie begann war der „Stadtraum“ eine naheliegende Thematik, die er in den 1970er Jahren für die Bezirksämter und den Senat als Auftragsarbeiten mit einem starken persönlichen Akzent umsetzte, wie das Buch „Wedding“ zeigt. Mit der Serie „Waffenruhe“ setzte er sich mit der damals noch geteilten Stadt Berlin auseinander. Einen weiteren photographischen Schritt über Berlin hinaus machte er mit der Werkgruppe „Ein-heit“ bei dem er sich einfühlsam mit den staatlichen Veränderungen in Deutschland auseinandersetzt.

Seine prägende Wirkung auf die zeitgenössische Photographie basiert wesentlich auf seiner photographischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die er auf die Themen „Stadtraum, der andauernden Aktualität von Geschichte, dem Selbstbildnis, dem Selbstverständnis von Frauen und der Bedeutung von Natur und Lebensmitteln“ anwendete. Seine anregende Wirkung beruht auch auf seinen unterschiedlichen ‚Veröffentlichungsformaten‘ und selbst erarbeiteten und erprobten Präsentationsformen, die er themengerecht und kreativ einsetzte.
Seine Photographien (1970er- und 1980er-Jahre) aus Wedding und Kreuzberg zeigen die Stadtlandschaft und den Alltag der Bevölkerung. Daraus entwickelt er in dem Buch „Irgendwo“ eine Stilrichtung, die Dokumentation und Abstraktion in den Motiven verbindet. 

In dem Buch und Ausstellungsprojekt „Waffenruhe“ entwirft er mit „Stadtlandschaften, Naturdetails und Porträts“ ein facettenreiches Bild Berlins, indem er Motive entwickelt, die symbolisch für Großstadt, Geschichte und Gesellschaft stehen. In seiner Werkserie „Ein-heit“ (1991-94) setzt sich Schmidt mit der Ikonografie von Nationalsozialismus, dem Sozialismus und der Demokratie auseinander, die seit 1933 Deutschland geprägt haben. Seine Frauenportraits (1997–1999), thematisieren das Verschwinden von Individualität in einer Internet Gesellschaft. In der Werkgruppe „Lebensmittel“ (2006–2010) arbeitet Michael Schmidt erstmals mit Farbphotographie und zeigt eine Lebensmittelindustrie, die von Normierung, Entfremdung und Internationalisierung geprägt ist. Bereits Mitte der 1990er-Jahre hat Schmidt sein Archiv für seine Inspiration entdeckt und nach kritischer Durchsicht daraus neue Bücher wie z.B. „Natur“ entwickelt.

Das Buch ist eine wichtige Neuerscheinung, da es stilistisch einen bedeutenden Photographen vorstellt und zu gleich dazu anregt, über den regionalen Tellerrand zu schauen und die künstlerische Photographie als eine Einheit und nationales Erbe zu erkennen. Es steht in der Tradition besonders gestalteter Photographiebücher mit klarer Typografie und einer prägnanten Buchgestaltung, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird. Auch für den Kenner der zeitgenössischen Photographie ein besonders empfehlenswertes Buch einer Zeitepoche der klassischen SW-Photographie. Mit diesem Buch und den Ausstellungen wird der vielbeschworene Anspruch, dass Photographie neue Perspektiven schafft und einen interkulturellen Austausch ermöglicht, eindrucksvoll umgesetzt. (db)

Ausstellungen:
bis 17.01.2021 HAMBURGER BAHNHOF - Museum für Gegenwart, (Berlin)

vom 11.5. – 29.8.2021 Galerie Nationale du Jeu de Paume, Paris
vom 28.9.2021 – 28.2.2022 Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid
vom 24.3. – 12.6.2022 Albertina Museum, Wien
 

Michael Schmidt - Fotografien 1965-2014
Photographien von Michael Schmidt 

Herausgeber Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt
Vorwort Udo Kittelmann 
Texte von Ute Eskildsen, Janos Frecot, Peter Galassi, Heinz Liesbrock, Thomas Weski 
Ausgaben: deutsch und englisch
Buchgestaltung Festeinband
400 Seiten, ca. 353 Abbildungen in Schwarz-Weiß und 168 farbigen Abbildungen
Verlag Koenig Books, London
ISBN 978-3-96098-794-9
49,90 €