Lee Miller - Deutschland 1945

Das Buch gibt das bis heute bestehende Entsetzen des Betrachters wieder, das sich den Alliiertentruppen bot als Sie im Frühjahr 1945 die deutschen Grenzen überschritten. Lee Millers Photographien sind bis heute von besonderer Ausdruckskraft, da sie ein spontanes Empfinden wiedergeben und die „Photographie ist eine Bildsprache, die einzige Sprache, die überall in der Welt verstanden werden kann.“ (A. Feininger).

Lee Miller hatte als aktive Surrealistin mit subjektivem Blick (zeitweilige Assistentin des surrealistischen Künstlers Man Ray) die Neugierde, den Schock und das Entsetzen ihrer Landsleute festgehalten. Die Photographie „Leichenberge“ (S. 77) ist quasi ein Menetekel für den Tiefpunkt deutscher Geschichte und seine Folgen für das Land. Als Kriegsberichterstatterin des Mode Magazins „Vogue“ (heute »eingebetteter Journalismus«) photographierte sie ab März 1945 beim Vormarsch der US-Truppen zuerst im Rheinland dann im Rhein-Main Gebiet in Sachsen Thüringen und Bayern (Aachen, Köln, Ludwigshafen, Heidelberg, Frankfurt am Main, Bad Nauheim, Leipzig, Weimar und Buchenwald, Torgau, Dachau und München) schwerpunktmäßig die Verbrechen und das Leid in den Konzentrationslagern von Buchenwald und Dachau (am Tag nach der Befreiung), die Zerstörungen in den Städten und im Alltag und deren Spuren in Gesicht und Haltung der Menschen.

Es ist bedauerlich, dass bei diesem außergewöhnlichen photographischen Zeitzeugnis bis heute in der Allgemeinheit das Bild vom Bad in Hitlers Badewanne [seine Münchner Privatwohnung am 30. April (Hitlers Todestag im Berliner Bunker)] in Erinnerung geblieben ist.

Mit ihren Reportagetexten (Vogue Bd. 1051945 „Nazi Harvest“) und der Wahl ihrer Photomotive wollte Miller aufrütteln und Haltung beziehen. Aber der Hass der Amerikaner auf die Zivilbevölkerung „angesichts der staatlichen Gräueltaten,“ der die damaligen Textkommentare bestimmte, ist aus heutiger Sicht zu reflektieren. Nach dem Sturm eines „patriotischen Mobs“ auf ihr Parlament (Kapitol) 2021 sehen wohl viele US-Amerikaner die Lage der Menschen in einer Diktatur (Deutschland 1933-1945) aus veränderter Position. Umso verdienstvoller ist es, dass der Greven Verlag den angloamerikanischen Historiker Richard Bessel beauftragt hat den historischen Kontext zu schildern und neu zu analysieren.

Ein sehr empfehlenswertes Buch als Dokument eines Zeitabschnittes, das uns zeigt, dass Grausamkeit nicht vergessen werden darf, aber diese leider nicht 1945 endete und wir daher auch weiterhin kritisch sein müssen! Dies wird aus den Photographien von Lee Miller deutlich und daher sei hier auch auf das ebenfalls rezensierte Buch „All at war“ hingewiesen, das die entgegengesetzte Perspektive zeigt, beide aber warnen eindrücklich vor zukünftigen Kriegen.

Ein für zeitgeschichtlich interessierte Leser, Historiker und Photographen gleichermaßen interessantes Buch, das übersichtlich gestaltetet ist und den Betrachter von einer bedeutenden Zeitenwende eine Brücke zu den heutigen politischen militärischen Konflikten schlagen lässt. Gleichzeitig bestätigt es das Statement, dass unsere historische Erinnerung SW ist und in dieser Reduktion Portraits und Zeitgeschehen in einzigartiger Weise in zeitlose Bilder umgesetzt werden. (db)

Ausstellung bis 25. Juli 2021 in der Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen (Rüsselsheim)


Lee Miller - Deutschland 1945
Photographien von Lee Miller

Texte von Richard Bessel
Deutsch
Buchgestaltung Festeinband, Duotondruck
140 Seiten mit 159 mehrfarbig gedruckten Abbildungen
Greven Verlag, Köln
ISBN 978-3-7743-0698-1
25,00 €