Bei den Fotografien von Thomas Hoepker denkt man unwillkürlich an die Eindrücke aus der DDR, Mauerkinder, Nachkriegsdeutschland, den Boxer Mohamed Ali mit der Fliege oder an New York am 11. September. Das Buch „Italia“ zeigt uns eine andere und doch bekannte Sichtweise auf den Alltag der Menschen in Italien. Aus fotografisch stilistischer Sicht ist die Gegenüberstellung mit dem Italienbild von Herbert List interessant, der parallele, aber auch andere Aspekte einer künstlerischen Autorenfotografie zeigt. Es ist aber auch der Altersunterschied der beiden Fotografen, der sie zur gleichen Zeit (1950er Jahre) an gleichen Orten ganz andere Aspekte wahrnehmen lässt.
Jeder der durch dieses Land der historischen Städte der kulturellen Highlights und grandiosen Landschaften reist, sieht auch die Schattenseiten neben dem „dolce Vita“ im Alltag. Ein Fotograf, der uns schon früh mit diesen Schattenseiten des Alltags konfrontiert hat, ist Herbert List z.B. mit den Serien aus Trastevere und Neapel (Fotografie Buch „Napoli“ mit Vittorio de Sica). Er hat Motivserien zum „mediteranen Licht“ „Begegnungen mit Künstlern (u.a. Anna Magnani, Giorgio de Chirico, Marino Marini), mit Bezügen zur griechisch-römischen Mythologie in Bomarzo und „Tramonto“ die beeindruckende essayistische Werkserie zu Alter und Vergänglichkeit in der Casa Verdi (Mailand) erstellt.
Für den 20-jährigen Hoepker ist Italien das Land der Entdeckungen; hier kann er unabhängig nach eigenen Vorstellungen arbeiten. Es ist die Italien-Sehnsucht, die seit Goethe in Deutschland mit kreativer künstlerischer Freiheit und dem Entdecken eigener neuer Fähigkeiten verbunden ist. Aldous Huxley formulierte „Sehen ist das Resultat aus Wahrnehmen, Auswählen, Erkennen“ und Fotografieren, um es auch für andere sichtbar zu machen.
Hoepker zeigt ein damals noch unbekanntes Italien - in Rom, Florenz, Siena, Venedig und Neapel, in Kalabrien und Sizilien - jenseits von Hochkultur und touristischen Hotspots, den italienischen Alltag, es sind Begegnungen mit Menschen voller Mitgefühl und Humor. Mit diesen Fotografien entwickelt Hoepker eine soziale Sichtweise, die auch seine späteren Serien prägen. Es ist der alltägliche Wechsel aus Straßenbildern, religiösen Umzügen, Demonstrationen, Wahlplakaten, politischen Kundgebungen. Beispiele hierfür sind „Frauen Gespräch“ (Frontespiz), „Kinder“ (S. 10), „Hühner“ (S. 12), „Bettler“ (S. 16), „Priester“ (S. 38), „Touristen“ (S. 62), „Näherin“ (S. 82), „Lesende“ (S. 89-96), „Regenschirme“ (S. 134), „Milchverkäufer“ (S. 136), die das Leben der Menschen in den sozialen Gemeinschaften zeigen.
Harald Eggebrecht nennt es das Auge der Empfindsamkeit. Es ist eine künstlerische Autorenfotografie, die Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und der Geschichte der Fotografie ist. Beide Fotografen interpretieren ihre Wahrnehmungen der jeweiligen Wirklichkeit, die aber jeder Reisende heute auch kennenlernt, wenn er es möchte! Es ist die fotografische Wahrnehmung dessen, was eine Italienerin mir gegenüber mit den Worten beschrieb: „Ich komme aus dem anderen Italien ...“
Eine interessante Publikation, die zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregt und den sehnsüchtigen Italien-Liebhaber auf Grund der genannten Gegenüberstellung daran erinnert das auch das „dolce Vita“ eine Kehrseite hat. Beide Bücher geben interessante Einblicke in die Arbeitsweise und das mediale Verständnis von Fotografie u.a. die narrativen Aspekte der Fotografie. Die verschiedenen Perspektiven auf den Alltag in Italien fordern vom Betrachter aufmerksames Hinsehen und eine kritische Reflexion des eigenen Standpunktes zu Italien.
Es ist besonders anerkennenswert das der Verlag „Buchkunst Berlin“ das Frühwerk des Fotografen Thomas Hoepker mit dieser interessanten Position zum „Italienbild“ in einer Ausstellung und einer Werkmonografie (Buch) würdigt, und so diese Werkgruppe in Deutschland bekannt macht. Fotografen*innen und Buchliebhaber*innen werden sich den Namen „Buchkunst Berlin“ merken, da diese Neuerscheinung zu großen Erwartungen berechtigt. (db)
Italia
Thomas Hoepker
Hrsg.: Christine Kruchen, Thomas Gust, Ana Druga
Texte von Raúl Morales Barcia, Thomas Gust
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Leinenband mit Titelschild
200 Seiten, 124 Abbildungen in Schwarz-Weiß
Buchkunst Berlin Verlag, Berlin
ISBN 978-3-9819805-7-8
45,00 €