Der Fotograf Dietmar Riemann (*1950) hat sich in seinem Hauptwerk von 1975 bis 1989 mit dem Alltag im „real existierenden Sozialismus“ der DDR auseinandergesetzt. In seiner Werkserie setzt er die Grundbedingungen menschlicher Existenz einer realen Wirklichkeit entgegen, die er in einer empathischen Dokumentarfotografie in Details des Alltags - Gestaltung des öffentlichen Raums durch Mauern, Zäune - und bei Schaufenstern im Gegensatz von Propagandaschriftzügen zu dem tatsächlichen Inhalt sichtbar macht. Eindrucksvolle Beispiele sind hier der Schriftzug „Es ist offen“ auf den heruntergelassenen Rollläden oder das Fischgeschäft mit dem Vermerk „Unser Angebot“ in einem leeren Schaufenster. Er macht die politischen Strukturen der DDR in alltägliche Details sichtbar. Seine persönliche Anteilnahme am Leben der Menschen und die gleichzeitige Distanz zum politischen System arbeitet er durch eine ästhetische Bildgestaltung gezielt heraus. Dazu gehören systemkritischen Blicke auf Szenen in einem Altersheim, marode Industrieeinrichtungen, Menschen mit geistiger Behinderung, aber auch augenzwinkernde Blicke auf das Freizeitvergnügen auf der Trabrennbahn. Seine Fotografien, im Buch zu sechs Themenserien zusammengestellt sind historische Dokumente, die in ihrer seriellen Abfolge eine individuelle Geschichtsschreibung darstellen. Es ist der Blick auf die deutsche Geschichte aus der Perspektive der normalen Bürger in Berlin und anderen Städten, Motive die scheinbar aus einer anderen Welt stammen.
Der Fotograf Dietmar Riemann hat seine beeindruckende fotografische Serie mit mehreren thematischen Schwerpunkten der Stiftung Situation Kunst übergeben, damit sie fachgerecht archiviert und als „deutsche Geschichte im Alltag“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Er absolvierte die klassische Fotografenlehre, arbeitete danach als Werksfotograf im Boxberger Braunkohlekraftwerk, und studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (Leipzig). Es folgte eine freiberufliche Tätigkeit, die von Ausstellungen und Büchern begleitet wurde. Hier ist u.a. „Was für eine Insel in was für einem Meer“ - Leben mit geistig Behinderten, mit einem Essay von Franz Fühmann (Hinstorff Verlag, Rostock 1986) zu nennen. 1986 erhält er ein Ausstellungsverbot in öffentlichen Institutionen, stellt daraufhin einen Ausreiseantrag der nach drei Jahren im September 1989 genehmigt wird. 2005 publiziert er „Laufzettel“ sein Tagebuch einer Ausreise, ist in Ausstellungen vertreten und fotografiert neue Themen.
Eine gelungene Publikation, die neben ihren künstlerischen Eigenwert auch eine Bedeutung als individuelle Geschichtsschreibung hat vor allem für eine Generation, die einen Staat wie die DDR nicht persönlich erlebt hat. Diese themenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten als Interpret individueller Geschichtserfahrung anregen. Der Diskurs über ihre künstlerischen Möglichkeiten wie die stilistischen Varianten konzeptueller Dokumentarfotografie im Stil eines „Magischen Realismus“ wird den künstlerisch interessierten Fotografen*in und den Liebhaber des Fotografie-Buches gleichermaßen begeistern. Mit diesem Buch und den Ausstellungen wird der vielzitierte Anspruch, dass Kunst neue Perspektiven schafft und einen historische Reflexion ermöglicht, eindrucksvoll umgesetzt. (db)
Ausstellung bis zum 2. April 2023 im Kubus von Situation Kunst (Bochum)
Weitere Stationen:
Kunsthalle Rostock 14. Mai – 23. Juli 2023, Kunsthaus Wiesbaden 27. September – 26. November 2023
Willy-Brandt-Haus, Berlin 15. Februar – 28. April 2024
Dietmar Riemann
Foto-Grafiker
Hrsg.: Eva Wruck, Stiftung Situation Kunst
Texte von Christoph Dieckmann, Peter Keup, Eva Wruck
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Festeinband
156 Seiten, 21 farbige und 94 Schwarz-Weiß Abbildungen
Kerber Verlag, Bielefeld
ISBN 978-3-7356-0889-5
40,00 € (Museumsshop 28,00 €)