Im Blick der Bilder. Digitalität, Fotografie und Bildkultur. Marcus Kaiser

Marcus Kaiser legt mit „Im Blick der Bilder“ ein lesens- und betrachtenswertes Buch vor, das sich mit Bildkulturen in Geschichte und Gegenwart auseinandersetzt. Besonders wird diese Publikation durch die Zusammenführung wichtiger bildwissenschaftlicher Themen mit Kaisers eigenen künstlerischen Arbeiten. Zentrale Gedanken und Positionen zur visuellen Kultur leiten sich so direkt wie anschaulich aus diesen Werken ab und lassen einen bereichernden Dialog von Wort und Bild entstehen. 

Auch auf der Textebene ist das Buch vom produktiven Zwiegespräch geprägt: Herausgeber Mario Donick liefert mit seinen Fragen an Autor Marcus Kaiser wichtige Impulse für das Expertengespräch über Digitalität, Fotografie und Bildkultur. Der thematische Bogen ist dabei weit gespannt, was passend erscheint, soll das Buch doch primär der Einführung und dem Überblick im Bereich der Bildkultur dienen. Neueste Entwicklungen der Bildtechnologie wie KI-Bildgenerierung und computational photography finden nicht nur ebenso Berücksichtigung wie die großen, jahrhundertealten Strömungen europäischer und außereuropäischer Bildtradition – sie werden auch auf unterschiedlichen Ebenen miteinander in Verbindung gesetzt. Hier zeigt sich Marcus Kaisers Erfahrung, der seit mehr als 30 Jahren in seiner Doppelrolle als Hochschuldozent und Bildender Künstler die Wesensart und Wirkungsweisen von Bildern erforscht. Ganz Grundlegendes gerät bei ihm in den Blick: etwa die Frage, was (heute) überhaupt als Bild gelten darf und wie weit sich der Bildbegriff ausweiten lässt, ohne beliebig zu werden. 

In diesem Kontext werden wesentliche Unterschiede zwischen Bildern in den sog. sozialen Medien und in der Bildenden Kunst analysiert. Wiederholt verweist der Autor auf die Erfindung der Zentralperspektive während der Renaissance als bahnbrechende Kulturtechnik, die nicht nur die Bildproduktion, sondern vor allem ganz wesentlich das Selbstbild des Menschen grundlegend verändert hat. 

Kaisers anschauliche Reflexionen decken einen großen Themenkreis ab: vom Verhältnis von Bild und Realität über die gesellschaftlich immer wieder beklagte Bilderflut hin zu einem Streben nach visueller Perfektion auf social media. Dieser Perfektionismus wird daraufhin kontrastiert durch Kaisers künstlerische Beschäftigung mit Ruinenbildern, bei denen gerade der zur Schau gestellte Verfall anziehend auf die Betrachter*innen wirkt. Dazu tritt die von Kaiser in mehreren Phasen seines Schaffens verwendete Camera Obscura als Beobachtungsinstrument und interface: etwa für das konzentrierte Erfassen von Landschaft und deren Simulation. 

Die Beschäftigung mit KI als Werkzeug zur Bildgenerierung kommt in mehreren Kapiteln des Buches zur Sprache. Mit dieser Auseinandersetzung verbindet sich Kaisers Appell: nicht vor der hermetischen Undurchsichtigkeit der im Verborgenen arbeitenden Algorithmen kapitulieren – sondern gerade die technologische Struktur und Wirkungsweise zu durchschauen versuchen!

Doch nicht erst mit der Etablierung von KI-Bildgeneratoren (deren Prozesse im Buch trennscharf von der fotografischen Bildgenese unterschieden werden) erkennt Marcus Kaiser einen „Bruch mit der sozialen Bildpraxis, davor’“. Bereits beim Aufkommen von Smartphones und der damit verbundenen massenhaften Bildproduktion im Alltag diagnostiziert er einen Verlust von Differenz im Verhältnis von Bild und Wirklichkeit. Die Durchökonomisierung digitaler Bildkommunikation und ihre Profitorientierung täten dazu ihr Übriges, so dass selbst mittels Fotografie entstandene Bilder letztendlich auf eine Form von Zeichen reduziert werden. Bilder verarmen in ihrem Sinngehalt. Das Ergebnis ist geradezu paradox: In einer Massenkultur der Milliarden Fotoaufnahmen ist das, was eigentlich ein Bild ausmacht, im Verschwinden begriffen. Hoch anzurechnen ist Kaiser in diesem Zusammenhang, dass er mit Blick auf die gegenwärtige Bilderwelt keinem Kulturpessimismus verfällt, sondern mit Arbeitsbeispielen seiner Studierenden pragmatisch dagegenhält: Hier scheint auf, was grundsätzlich an Potential in den neuen technischen Möglichkeiten steckt. Es wird deutlich, wie wichtig es ist, sie in einer auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Haltung zu verwenden. Geradezu tröstlich kann es auf die Leser*innen wirken, was Kaiser einigermaßen optimistisch zur Auswirkung von KI auf die Zukunft der Fotografie prognostiziert: Die neue Technologie muss nicht zwingend der Fotografie den Rang ablaufen, sondern kann Fotograf*innen von unterkomplexen, aber zeitaufwendigen Aufgaben entlasten. So bleibt letztendlich mehr Freiraum für den künstlerischen Einsatz des Mediums – eine Befreiung der Fotografie, fast wie vor knapp 200 Jahren bei der Erfindung des fotografischen Verfahrens: Durch die Fotografie ist die Malerei aus der Pflicht zur realitätsgetreuen Abbildung entlassen worden und fand gerade dadurch ihren Weg in die Abstraktion. 

Für die jüngste Zukunft erwartet Kaiser verstärkt „Gegenentwürfe“ von Künstler*innen zu den neuen Bildtechnologien. Man ist auch gespannt, wie sein eigener künstlerischer Beitrag auf diesem gerade virulenten Feld im Umbruch aussehen wird. 

Dass Marcus Kaiser neben seiner Lehrtätigkeit an und mit Bildern forscht, wird schon beim Betrachten seiner Arbeiten aus den frühen 1990er Jahren deutlich, etwa den Wall Views, bei denen er Löcher in der obsolet gewordenen Berliner Mauer zur großformatigen Kamera umfunktioniert. Diese richtet ihren Blick nicht nur gleichzeitig in Richtung Ost und West aus, sondern bildet sich darüber hinaus auch noch selbst mit ab. Nicht weniger eindrücklich ist Kaisers Versuchsanordnung Optische Hütte (2003/04), die er auf einer Berliner Brache aus dort gefundenem Material zusammenbaute. Hier wird besonders deutlich, dass Kaisers Beschäftigung mit Bildern und visueller Kultur weit über das Fotografische hinausreicht – hier in Richtung Skulptur und Performance. 

Allen mit Interesse an Fotografie und digitalen Bildern in Kunst und Alltagskultur sei „Im Blick der Bilder“ wärmstens empfohlen. Gerade die Verbindung mit den etwa 30 Abbildungen von Kaisers Arbeiten begegnet den Leser*innen als wirksame Synthese von Bildwissenschaft und visueller Kunstpraxis. (Dr. Christoph Naumann-Zimmer)

Im Blick der Bilder
Digitalität, Fotografie und Bildkultur
Marcus Kaier
Erschienen in der Reihe: 
Über/Strom: Wegweiser durch das digitale Zeitalter
im Springer Verlag Wiesbaden, 2023.
132 Seiten, 11 s/w-Abbildungen und 15 Abbildungen in Farbe
ISBN 978-3-658-41264-7
eBook ISBN978-3-658-41265