Jeder kennt das zweifache Selbstportrait (1931) von Ilse Bing (1899 -1998) mit dem sie eine Ikone des „Neuen Sehens“ geschaffen hat. In Frankfurt (Main) geboren, entwickelte sie sich in Berlin und Paris zur Photographin, um dann nach 1933 mit ihrem Ehemann dem Pianisten Konrad Wolff über Frankreich in die USA auszuwandern. Ihr photographischer Lebensweg mit der Leica, den sie so beschrieb: „Ich hatte das Gefühl, die Kamera sei zu einer Erweiterung meines Auges geworden.“ eine Vorstellung, die der Photograph Andreas Feininger in seinem Selbstportrait umgesetzt hat. Stilistisch zeichnet Ilse Bing aus, dass sie in allen Schaffensperioden auch experimentell mit dem Medium Photographie gearbeitet hat.
Ihre spezielle Arbeitsweise mit der „Leica“ ist in Qualität und Umfang sicher nur mit dem Werk von Paul Wolff vergleichbar. Beide zeichnen sich durch extreme Nahaufnahmen, gewagte Perspektiven, unkonventionelle Zuschnitte sowie Geometrien und Detailansichten aus. Beide arbeiten ausschließlich mit den vorhandenen Lichtverhältnissen und nutzten dabei meisterlich Lichtquellen wie beleuchtete Fenster, Lampions, Straßenlaternen, Scheinwerfer oder auch natürliches Licht wie Sonne und Mond.
Ihre Arbeiten geprägt von großer Sorgfalt und Präzision und der zeitgenössischen abstrakten und gegenstandsloser Malerei als auch das Neue Sehen wurden in der Pariser Ausstellung „zu moderner Fotografie“ (1936) und in New York in „Photography 1839 - 1937“ neben Zeitgenossen wie André Kértesz, Brassaï und Man Ray gezeigt. Als Photojournalistin und Modephotographin entwickelte Ilse Bing, unabhängig von Man Ray, eine Art der Solarisation des künstlerischen Bildes (Surrealismus). Sie veröffentlicht in „Das Illustrierte Blatt“, Frankfurt, „VU,“ „Le Monde Illustré,“ „Le Document“ und „Arts et Métiers Graphiques.“
Nach 1941 in New York erstellte Ilse Bing vor allem Werbe- und Portraitphotographie u.a. von Kindern. Ab 1952 arbeitete sie ausschließlich mit der Mittelformatkamera „Rolleiflex“ und 1957 mit Farbnegativfilmen. Ihre Entscheidung 1959 mit der Photographie aufzuhören, begründete sie so: „Mit diesem Medium konnte ich nichts Neues mehr sagen. Ich habe auf dem Höhepunkt meiner fotografischen Entwicklungen aufgehört, mit der Kamera zu arbeiten. Ich konnte damit nicht mehr ausdrücken, was ich erlebte. Natürlich hätte ich noch schöne Bilder machen können, aber es kam nicht mehr von innen. Der Charakter der Arbeit änderte sich mit meiner Entwicklung und hat jetzt ein neues Gesicht bekommen.“
Ihr Werk wurde in der 1970er-Jahren wieder ausgestellt, was sicher auch mit dem wachsenden Interesse an der Klassischen Moderne in der Photographie zusammenhing. Eine lebenslange Freundschaft verband Bing mit der Christdemokratin Elisabeth Schwarzhaupt; beide kannten sich aus der gemeinsamen Frankfurter Schulzeit.
Ein empfehlenswertes Buch als Dokument eines Aspekts der klassischen Moderne und ihren stilistischen Impulsen für die Photographie. Für Kunstwissenschaftler und Photographen ein gleichermaßen interessantes Buch, das schön gestaltetet ist mit einer sachlich funktionalen Buchgestaltung und den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht. Bei der aktuellen Diskussion über das „Neue Sehen“ regt es zu weiteren Diskursen über die künstlerischen Möglichkeiten und stilistischen Varianten konzeptueller Photographie an. (db)
Ilse Bing - Photographs 1928–1935
Photographien von Ilse Bing
Hrsg.: Galerie Karsten Greve Paris
Text: Kerstin Stremmel
Deutsch, Englisch, Französisch
Buchgestaltung Festeinband
112 Seiten, 60 Schwarz-Weiß Photographien, 7 Abbildungen,
Edition Galerie Karsten Greve, Paris
ISBN 978-3-940824-78-3
40,00 €