Herbert List. Panoptikum

Das Buch „Herbert List. Panoptikum“ ist eine außergewöhnliche Publikation, die eine bisher nicht gezeigte Werkgruppe mit der originalen Buchgestaltung aus dem Jahre 1944 vereint. Es zeigt damit einen seit der „Neuen Sachlichkeit“ über die 1950er Jahre bis heute bestehenden Anspruch auf Werkvollendung durch eine kongruent gestaltete Präsentation als Buch. Das jetzt von der MK&G in Zusammenarbeit mit Photoinstitut Bonartes vorgelegte Buch entspricht dem Gestaltungsentwurf von Herbert List (1944).

Die Werkserie von Herbert List zeigt das Wachsfigurenkabinett im Wiener Prater in einer Inszenierung des Fotografen, die einen fiktiven Rundgang durch das Kabinett darstellt. Er spielt dabei mit Illusion und populärer Unterhaltung, entfernt sich scheinbar von der Kriegsrealität (1944) bei historischen Figuren der Könige und Staatsmänner, mit Märchenszenen und der Darstellung berühmter historischer Gemälde und Plastiken.

Der separate Museumsteil des „Menschenmuseums“ zeigt die Entwicklung von der anatomischen Lehre (Obduktion) zur volkstümlichen Belustigung mit didaktischen und aufklärerischen Aspekten. Das im Panoptikum vorangestellte Motto: „Erkenne Dich selbst“ trifft auch auf die Fotografien von Herbert List zu. Die Fotografien gehen nicht nur oberflächlich unter die Haut - es werden Muskeln, Sehnen, Knochen, aber auch Krankheiten und medizinische Eingriffe präsentiert - sondern auch indirekt durch den Gegensatz von aufgeschnitten Organen und angrenzender unberührter Haut, die durch das Material Wachs wie von Blut durchpulst erscheint. In den von List gewählten medizinischen Motiven steckt auch ein Hinweis auf die Menschenversuche im KZ und die Euthanasie, die List z.B. durch die Motive Tafel 24 + 25 besonders herausstellt.

Durch die gewählten Sujets kommt er aber mit der NS-Ideologie in Konflikt. Denn 1944 ist das Wachsfigurenkabinett durch das Nebeneinander von Staatsmännern und Verbrechern oder des anatomischen Kabinetts mit Modellen von Erbkrankheiten in die Kritik der Partei geraten. Die seit dem 19. Jahrhundert populären Exponate zu unterschiedlichen „Rassen“ wurden auch der politischen Ideologie angepasst.
List hat sich in verschiedenen Werkserien mit der Populärkultur, dem Hybriden und dem Kitsch auseinandergesetzt. In jenem Jahr 1944 ist das Skurrile, das Illusionsmedium, sicher auch ein Verweis auf diese Elemente in den staatlich kontrollierten Medien Radio und Kino. Das Panoptikum dagegen soll im Sinne der Aufklärung gleichermaßen belehren und unterhalten, ist sein Ursprung doch in der medizinischen Lehre und den Wissenschaften.

Das Fotobuchprojekt „Präuschers Panoptikum. Ein Bilderbuch von Herbert List“ wurde bisher nicht öffentlich gezeigt. Zu der Werkserie wird auf Susan Sontag (US-amerikanischen Schriftstellerin und Fotografie-Kritikerin) verwiesen, die als „Camp“ die Freude an der Übertreibung, an Popkultur und Kitsch bezeichnet.

Ein besonderer kultureller Aspekt ist der 1947 in der Schweizer Zeitschrift „Graphis“ mit einigen Fotografien aus dem Panoptikum erschienene Essay von Erich Kästner. Dieser Nekrolog interpretiert unter dem Titel „Vom Leben und Sterben der Wachsfiguren“  die Fotografien von Herbert List und gleichermaßen das Wachsfigurenkabinett als Institution. Es ist eine subtile Kulturkritik an der Zeitenwende und dem Geschmack der Öffentlichkeit.

Das Buch „Herbert List. Panoptikum“ und das bereits auf dieser Plattform rezensierte Buch „Herbert List. Das magische Auge“ bieten die außergewöhnliche Gelegenheit das Gesamtwerk Herbert Lists in allen Aspekten zu beleuchten und kennenzulernen.

Eine interessante Publikation, die der gezeigten Werkgruppe künstlerisch gerecht wird und zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregt. Der Band „Herbert List. Panoptikum“ ist als Mappenkassette gestaltet die das von List gestaltete Buch und den eingesteckte Kommentarband beinhaltetet. Letzterer bietet einen eindrucksvollen Beitrag zu weiteren Diskursen über die stilistischen, konzeptuellen buchgestalterischen Aspekte von Fotografiebüchern.

Mit diesen Künstlerbuch-Editionen (2022) Herbert List „Das magische Auge“ und „Panoptikum“ wird der Anspruch, dass Kunst neue Perspektiven schafft und einen interkulturellen Austausch ermöglicht, eindrucksvoll umgesetzt. (db)

Ausstellung bis 18. September 2022 im Museum für Kunst & Gewerbe (Hamburg)
im Rahmen der 8. TRIENNALE DER PHOTOGRAPHIE HAMBURG 2022

Herbert List. Panoptikum
Herbert List

Hrsg.: Monika Faber, Andreas Nierhaus, Peer-Olaf Richter
Texte u.a. von Sandra Mühlenberend, Arne Reimer, Esther Ruelfs, Peer-Olaf Richter, Werner
Michael Schwarz
Deutsch
Buchgestaltung bibliophile Mappe mit Text- und Bildband
Bildband 20 Seiten und 30 Tafeln, Kommentarband 102 Seiten mit Textabbildungen
Spector Books, Leipzig
ISBN 978-3-95905-581-9
54,00 €