In den 'Italien' Werkgruppen von Herbert List (1903-1975) nehmen die Straßenszenen, das Alltagsleben in Rom und Neapel mit ihrer Ambivalenz zwischen sensibler Beobachtung und sorgfältiger Inszenierung eine besondere Stellung ein. Wie Friedrich Seidenstücker hatte er das intuitive Gefühl für den entscheidenden Augenblick und vergaß dabei aber nicht die ausbalancierte Komposition (Licht- und Schatten-Strukturen) mit einem symbolischen Aspekt zu kombinieren. So erkennt man in seinen Photographien die Komposition der 'Neuen Sachlichkeit' und des 'BAUHAUS', aber auch den stilisierenden Aspekt des Surrealismus.
Heute wird diese Arbeitsweise als die von ihm kreierte „fotografia metafisica“ bezeichnet. Mit dem Photographen Hoyningen-Huene photographierte er die 'Antiken Stätten' in Griechenland und erarbeitet sich dabei die Verbindung des Symbolischen mit Menschenszenen. Diese besondere Ausdruckskraft perfektionierte er in den Künstlerportraits in Italien. Hier sind beispielhaft zu nennen: „Der Lorbeer - Rolf Düring“ Giorgio di Chirico, Pier Paolo Pasolini, der Bildhauer Marino Marini. Zu den Alltagsszenen gehören der `Der Finger Gottes,´ der „Priester mit Freund,“ „Maler auf dem Forum Romanum,“ „Feierabend,“ der „stolze Vater.“
Es bleibt immer etwas Fremdes, aber in dieser Distanz wohnt auch der Wille zur Ästhetik (zur Optimierung), die auch im Alltagsleben erkennbar ist. Dem Betrachter bietet List Einblick in eine andere Kultur-Welt. Exemplarisch ist hier die Photographie „Orcus“ aus der Serie ‚Sacro Bosco von Bomarzo‘. Man kann das Motiv Im Rachen des Orcus, des personifizierten Höllenschlundes dreifach interpretieren, A) Ein Hirtenjunge versucht seine weidende Schafherde zu überblicken. B) Die Photographie als Ökotraum als friedliches NATURPARADIES oder C) die Kulturinterpretation der antiken Welt als das real gewordene `Arkadien´ verstehen!
In Trastevere (ROM) und Neapel unternahm Herbert List seit 1957 fotografische Streifzüge durch die Stadt. Seine Sympathie galt den einheimischen Bewohnern: Fischern, Händlern, Handwerkern, Näherinnen und Wäscherinnen, aber auch Nonnen und Priestern, Müßiggängern und Sängern, vor allem aber den Straßenkindern. Der Regisseur und Schauspieler Vittorio De Sica, gebürtiger Neapolitaner, übernahm dabei die Aufgabe des Interviews. Im Ergebnis entstand der 1962 veröffentlichte Bildband Napoli, mit Photographien von authentischen Alltagsszenen und O-Tönen der abgebildeten Personen, eine sozialkritisch akzentuierte Gesamtschau der süditalienischen Metropole.
1937 erhielt Herbert List mit seinen Photographien aus Italien eine erste Einzelausstellung. Die Galerie Karsten Greve (Köln) zeigt jetzt eine Retrospektive dieser Werkgruppen, die seine Sensibilität für das Thema `ITALIA´ würdigen. Das Begleitheft ist von Thomas Harder ist mit einem kenntnisreichen Text versehen und hervorragend gedruckt. Insgesamt eine besonders gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und den Liebhaber des Photographie-Buches durch eine besondere künstlerische Note erfreut. (db)
Ausstellung noch bis zum 31.07.2021, Galerie Karsten Greve, Köln
Photographien von Herbert List
Hrsg.: Galerie Karsten Greve
Texte von Matthias Harder
Deutsch, Englisch, Französisch
Buchgestaltung Broschur
48 Seiten, 33 Abbildungen in Schwarz-Weiß
Eigenverlag Galerie Karsten Greve, Paris
ISBN 978-3-940824-77-6
12,00 €