FRIEDRICH SEIDENSTÜCKER – LEBEN IN DER STADT

Mit dem Fotografen Friedrich Seidenstücker (1882-1966) wird ein früher Protagonist der „street photography“ vorgestellt, der es in Bezug auf die Darstellung des Alltagslebens zu einer frühen Meisterschaft gebracht hat. So kennt jeder an Fotografie Interessierte die „junge Frau mit eleganten Schuhen, die über eine Pfütze springt.“ Friedrich Seidenstücker hatte die besondere Begabung unsere Vorstellungskraft in seinen Fotografien spielen zu lassen. In dem Bild „Begegnung“ (S. 48) hebt die Frau den Kinderwagen damit ihr Kind die Kuh sehen kann. Aber unsere Fantasie sieht zwei Mütter, die über ein kleines Kind sprechen! Für diese Suggestionskraft gibt es auch weitere Beispiele „wer beobachtet hier wen?“ (S. 57) Giraffen (S. 51), Zebras (S. 54), die jedes für sich sprechen.

Friedrich Seidenstücker zählt zu den bedeutenden Chronisten des Alltagslebens im Berlin der Weimarer Republik. Dabei spannt er den Bogen vom beschwerlichen Arbeitsalltag der arbeitenden Bevölkerung bis zu den kleinen Freuden dem Sonntagsvergnügen (S.41) mit dem besonderen Schwerpunkt der Tiere aus dem Berliner Zoo. Sein fotografischer empathischer und oft humoristischer Blick zeigt „Kleingewerbetreibenden wie Kutschern, fliegenden Händlern, Kofferträgern und Zeitungsverkäuferinnen“ wie das oft ähnliche Verhalten von Mensch und Tier. Wie unter der Lupe wird das Leben in Berlin und die soziale Realität in den Zwischenkriegsjahren erkennbar.

Mit seiner Tätigkeit als freier Bildjournalist seit 1930 für den Ullstein-Verlag wurde er auch zu einem Wegbereiter der bebilderten Magazine und veröffentlichte in der „Berliner Illustrierten und u.a. „Die Woche“ oder der „Vossischen Zeitung.“ Seine Dokumente des Alltagslebens wurden noch in den 1950er Jahren gedruckt und sein Archiv ist heute wissenschaftlich erschlossen. Die Ausstellung der Seidenstücker Fotografien in der Pinakothek der Moderne (München) erfolgt unter dem Titel „SAMMLUNG“ im Kontext der intensiven Sammlungs- und Forschungsarbeit, die die Aktualität des mehr als 200 Originalfotografien umfassenden Werkkonvoluts von Friedrich Seidenstücker zeigt. Das Buch erscheint in einer Reihe, die kontinuierlich die Bestände der Stiftung Ann und Jürgen Wilde publiziert. Das Begleitheft ist von Dr. Simone Förster kenntnisreich betextet und hervorragend gedruckt. Insgesamt eine besonders gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und den Liebhaber des Fotografie-Buches durch eine künstlerische Note erfreut.

FRIEDRICH SEIDENSTÜCKER – LEBEN IN DER STADT. Ausstellung bis 24. September 2023 in der Pinakothek der Moderne (München)

Friedrich Seidenstücker
Hrsg.: von Simone Förster für die Stiftung Ann und Jürgen Wilde
, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München
Vorwort von Bernhard Maaz, Hannelore Fischer und Birgit Kümmel
Texte von Simone Förster und Jürgen Wilde
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Broschur
82 Seiten, 52 Abbildungen in Schwarz-Weiß, ein bebilderten Gesamtverzeichnis des Bestands
Seidenstücker in der Stiftung Ann und Jürgen Wilde
Eigenverlag, München
ISBN 978-3-9816500-9-9
Museumspreis: 16,00 €