Das Buch „Fotografin zwischen Krieg und Glamour“ zeigt eindrucksvoll, dass Lee Miller (1907-1977) über das berühmte Bild in der Badewanne und die grauenvollen Eindrücke bei der Befreiung des KZ Dachau hinaus eine bedeutende Fotografin des 20. Jahrhunderts war. Ihr beruflicher Werdegang war sehr facettenreich, Fotomodell für Vogue, Muse des Surrealisten Man Ray, Kriegsberichterstatterin, Portraitistin/Freundin bedeutender Künstler wie Max Ernst, Pablo Picasso, Man Ray, Henry Moore, George Limbour, Jean Dubuffet, Renato Guttuso und Entwicklerin von Gourmet-Kochrezepten.
Aus heutiger Sicht ist ihr Œuvre durch die Kriegsreportagen für Vogue geprägt, deren Erstellung sie auch persönlich sehr mitgenommen haben, wie die Eindrücke aus Dachau (Deutschland) und der Normandie (Frankreich) zeigen! Beide Serien dokumentieren in beeindruckenden Motiven den Horror und Wahnsinn des Krieges. Ihre ersten Kriegseindrücke sind die deutschen Bombenangriffe auf London (1940-41), die sie mit ihrem im Surrealismus wurzelnden Blick für eine mehrdeutige Wirklichkeit gesehen und häufig kunstvoll inszeniert hat. Ab Dezember 1942 als offizielle Kriegsfotografin der US-Armee fotografiert sie für die Vogue. 1944 begleitet sie mit dem Life-Fotografen David E. Scherman die amerikanischen Truppen von der Normandie bis nach Leipzig. Als Frau soll sie nur aus Militärlazaretten berichten, doch wie mehrmals in ihrem Leben setzt sie sich über Konventionen hinweg - dokumentiert in Saint-Malo erstmals Kriegshandlungen, nimmt als Kriegsreporterin an der Befreiung von Paris teil und dokumentiert ab Frühjahr 1945 in Aachen, Köln (beschädigter Dom), Nürnberg (auf der Straße kochende Frauen), Dachau, München, Buchenwald und Leipzig den Vormarsch der US Truppen in Deutschland.
Sie dokumentiert als erste die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur in den gerade befreiten Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Die fotografische Serie mit dem Titel „Nazi Harvest“ setzt sich mit Schuld - Leichenberge, Tote in Viehwaggons, ausgemergelte Gefangene, die nach Essbarem suchen - und Sühne - geschlagene KZ-Wärter, der ertränkte SS-Mann, die „Visitor´s tour“ der im Sonntagsdirndl durch die Lager geführten Zivilbevölkerung - auseinander. Im zivilen Bereich steht dafür die Familie des Leipziger Bürgermeisters, die gemeinschaftlichen Selbstmord begangen hatte. Mit Parteiabzeichen und vom abgebröckelten Putz des Häuserkampfes bedeckt, sind die Fotografien die Verkörperung eines nationalen Dramas.
Wie sehr diese Kriegserlebnisse Lee Miller auch psychisch belastet haben, dokumentiert das Portrait in der Badewanne (Kat. 81, S.169, 30. April 1945), das ein bewusstes politisches Statement ist. Die Portraitfotografie auf dem Badewannenrand nennt den Besitzer der Badewanne und die Stiefel davor hatte sie bei der Befreiung des KZ Dachau getragen, der Schmutz auf der Badematte sagt deine Verbrechen sind zu dir und deinem privaten Refugium zurückgekehrt.
Zu der Kriegsberichterstatterin gehört auch die Serie „Befreites Paris“ in dem sie dem Betrachter ein ganz anderes Bild vermittelt. Auf Militärfahrzeugen spielende Kinder (Kat. 86), eine Pariser Café-Szene mit Einschusslöchern in den Scheiben (Kat. 87), Picassos Atelier (Kat. 93), private Feier mit Jean Cocteau (Kat. 94), man spürt, dass sie eine Kompensation zu den Kriegsereignissen sucht.
Die Ausstellung des „Museum für Gestaltung“ (Zürich) und des Museums der „Züricher Hochschule der Künste in Kooperation mit den Lee Miller Archiv (East Sussex) wird ergänzt durch diese Werkmonografie - herausgegeben vom Bucerius Kunst Forum (Hamburg). Beiden Institutionen gebührt Anerkennung, dass sie die Werkgruppen der bedeutenden Fotografin Lee Miller (1916-1977) nicht nur ausstellen, sondern auch mit einem solchen hochwertigen Buch würdigen.
Das Buch „Fotografin zwischen Krieg und Glamour“ präsentiert circa 150 Fotografien aus den Jahren 1929 bis 1951mit einem Schwerpunkt auf ihrer Tätigkeit als Kriegsberichterstatterin. Mit ihrem im Surrealismus wurzelnden Blick für eine mehrdeutige Wirklichkeit reflektiert sie die Kriegserlebnisse und fordert vom Betrachter aufmerksames Hinsehen und eine kritische Reflexion des eigenen Standpunktes. Diese Werkserien geben interessante Einblicke in ihre Arbeitsweise und ihr mediales Verständnis von Fotografie. Eine umfassende Ergänzung der Werkserien sind die informativen Textbeiträge von Ami Bouhassane „Lee Millers Sabatiermesser,“ Elisabeth Bronfen „Lee Millers surrealistischer Blick auf den Krieg“, Karin Gimmi „Lee Miller – Freundschaften“, Cathérine Hug „Viele Leben, ein Paar Augen. Überlegungen zu Lee Millers surrealistischer Betrachtungsweise“ und Katharina Menzel-Ahr „Korrespondentin für Vogue in Deutschland 1945.“
Mit ihren Werkserien „Besetzung, KZ Dachau, Menschen eines besiegten Landes“ im Frühjahr 1945 hat Lee Miller ein außergewöhnliches fotografisches und historisches Dokument geschaffen, das in der aktuellen Situation in Europa Mahnung und zugleich Aufforderung zur kritischen Reflexion unserer eigenen Haltung ist. Diese themenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Autorenfotografie und ihre historischen und dokumentarischen Möglichkeiten anregen. Zwei Kriegsreporterinnen Lee Miller und Anja Niedringhaus haben den Bildjournalismus zu großer Perfektion geführt und in ihren Fotografien mit unterschiedlichen Bildthemen den Horror und Wahnsinn des Krieges als eindringliche Mahnung dokumentiert. (db)
Ausstellung: bis 24. September 2023 in Bucerius Kunst Forum, Hamburg)
Fotografin zwischen Krieg und Glamour
Lee Miller
Hrsg.: Kathrin Baumstark
Texte von A. Bouhassane, E. Bronfen, K. Gimmi, C. Hug, K. Menzel-Ahr
Deutsch
Buchgestaltung Festeinband
240 Seiten, 186 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
HIirmer Verlag, München
978-3-7774-4132-0
45,00 €