Mit der Werkmonografie „Evelyn Richter“ schließt der Verlag Spector Books eine Lücke in unserem kollektiven Bildgedächtnis der vergangenen 70 Jahre. Eine bedeutende, leider zu wenig bekannte und publizierte (Autoren-)Fotografin wird mit einem ihrem Werk adäquaten Buch geehrt. Evelyn Richter hat wie Kollegen*innen z.B. Albert Renger-Patzsch und Herbert List sich nicht nur für die „Eigenständigkeit des Bildes sondern auch sehr für das -„Narrative der Bildfolge“ - ein reflektierendes Verständnis und dessen Wiedergabe im Buch interessiert. Das Prinzip „einer frei gestalteten Dokumentation“ nach „arbeitspsychologischen Aspekten“ für das sie sich immer wieder einsetzte, prägt auch gestalterisch und konzeptuell dieses Buch.
Evelyn Richters (31.1.1930 -10.10.2021) Œuvre umfasst Werkgruppen zu den Themen arbeitende Frauen, Lehrlinge, Reisende in öffentlichen Verkehrsmitteln, Ausstellungsbesucher*innen und Künstler*innen Portraits, und den Themenkomplex Arbeitsalltag, wobei Richter insbesondere Frauen und Auszubildende in den Blick nimmt. Zusammen mit den Stadtlandschaften (Tristesse, Verfall) kontrakarieren ihre Bildmotive das Selbstbild der DDR als eine vermeintlich menschlichere Gesellschaft.
Sie definierte eine eigenen Lebensrealität das „ungeschönte“ Menschen- und Alltagsbild, differenziert zu fotografieren und damit ästhetische Bilder mit sozialem Bewusstsein zu gestalten. Viele ihrer Werke wie z.B. sorbische Trachten, Moskau 1957, Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Musiker Portraits sind in unserer kollektiven Erinnerung verankert. Aber zwei Werkserien fallen bei der Betrachtung ihres Œuvres besonders auf, die Werkgruppe „Menschen in Eisen- und Straßenbahnen“ wie das junge Paar (S.72) und der sensibel beobachtete „Pioniereisenbahner“ (1972, S.62). Dieser könnte auch 35 Jahre vorher mit anderem Emblem fotografiert worden sein. Die andere Werkgruppe sind Frauen am Arbeitsplatz mit dem besonderen Portrait der Kranführerin (1963, S.125), in der sich eine ganze Generation spiegelt. Es sind Wahrnehmungen aus einer heute nicht mehr vorstellbaren Welt, die es auch in anderen Staaten Europas gab, dabei ist es eher nachrangig, dass der dargestellte Staat die ehemalige DDR ist.
Zentraler Punkt der eigenen Arbeit war das „Sehen“ der Motive, dies vertrat sie auch vehement gegenüber den Studierenden (1981 bis 2001). Es ist eine Fotografie, die ihre Wirklichkeit des Alltags zeigt, und nicht das von der DDR-Staatsführung propagierte Bild. Die besondere Qualität der SW-Fotografie betont die kritisch wie empathisch dokumentierten ostdeutschen Lebenswelten. Ihr berufliches Credo war ein fotografisches Bild „sollte ästhetisch und formal überzeugen, Inhalte vermitteln, Emotionen auslösen und verdichten.“ Sie war geprägt durch die Fotografenlehre in Dresden bei Pan und Christine Walther, dem Studium in Leipzig. Ihr Berufsbild einer künstlerisch arbeitenden Fotografin wurde u.a. von der Ausstellung ‚Family of Man‘, die Richter 1955 in West-Berlin besuchte, angeregt. Wie alle in ihrer Generation hat Evelyn Richter auch Auftragsarbeiten in diesem Fall Reportagen u.a. in Westdeutschland erstellt.
Das Musikleben war in der DDR ein in gewissem Sinne geschützter Freiraum, weil die Musiker*innen und Dirigenten für das Image und die Devisen des Staates notwendig waren. Diesen Freiraum - einen Ort der inneren Emigration - spürt man auch in den Motiven der Proben und Unterrichtsstunden aus unmittelbarer Nähe, bei Aufführungen aus der Distanz des Zuschauerraums oder des Orchestergrabens von Evelyn Richter, die so besonders kreativ fotografieren und ihre Bücher zu dem Komponisten und Dirigenten Paul Dessau und dem Geiger David Oistrach gestalten konnte. Beide begleitete sie fotografisch über mehrere Jahre bei der künstlerischen Arbeit, eine Intensität, die auch die Bücher von 1973 und 1974 vermitteln.
Das Buch ist die kritische Reflexion eines Abschnitts fotografischer Stilentwicklung, der bis heute prägend ist und hier am beruflichen Werdegang von Evelyn Richter aufgezeigt wird. Es kombiniert neun Essays mit Fotografien aus dem Archiv in klassischen und teils unbekannten Bildstrecken zu einem interessanten Einblick in ihre Fotografie. So hat man den Eindruck die Fotografin selbst stelle in einem Arbeitsgespräch ihre Fotografien vor. Das Buch ist grafisch sachlich funktional gestaltet und setzt mit der Wahl der Papiere hochglänzend für die SW-Fotografien, und hellgrau matt für die Texte deutliche Akzente, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht werden. Eine ausführliche Biografie und Essays zu ihrem Fotografie Stil, zu ihrem internationalen Austausch, zur Buchkonzeption, und ihrer Persönlichkeit ergänzen die Bildstrecken. Ein empfehlenswertes Buch als Dokument der stilistischen Impulse für die Entwicklung einer dokumentarisch geprägten Autorenfotografie.
Mit der Fotografie „Eingang zum Pflegeheim“ S.107 wird deutlich, dass künstlerische Fotografie neue Perspektiven schafft und einen historischen und interkulturellen Austausch ermöglicht, der eindrucksvoll im Werk von Evelyn Richter umgesetzt ist. (db)
Ausstellung bis 8. Januar 2023 im Museum Kunstpalast (Düsseldorf)
Ausstellung vom 25. Mai bis 10. September 2023 (Museum der bildenden Künste Leipzig)
Fotografien von Evelyn Richter
Hrsg.: Linda Conze, Jeannette Stoschek
Vorwort: Felix Krämer und Stefan Weppelmann
Texte: Linda Conze, Florian Ebner, Philipp Freytag, Sandra Starke, Jeannette Stoschek und Jan Wenzel.
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Leineneinband, zweifarbiges Papier im Buchblock
212 Seiten, ca.240 Abbildungen in schwarz-weiß
Verlag Spector Books, Leipzig
ISBN 978-3-95905-628-1
42,00 € (im Museum 29,90€)