Mudersbach

Laurenz Berges (1966) ist der letzte Meisterschüler von Bernd Becher, dessen Großeltern und später seine beiden Tanten Berta und Maria in diesem Siegerländer Haus lebten. Es war für Bernd Becher die Inspiration zu seiner Auseinandersetzung mit den Fachwerkhäusern der Siegerländer Montanregion, die er dann mit seiner Frau in eine fotografische Werkserie und mehrere Bücher überführte.

Auch wenn Laurenz Berges sich auf verlassene Orte und Räume in seinen Werkgruppen konzentriert, hat dieses Buch einen „gewissen Beigeschmack“ für den fotografisch geprägten Betrachter (Bernds Zimmer, S. 57, 85, Potsdamer Stube, S. 67). Grenzt es doch trotz seiner dokumentarischen Bildauffassung ein wenig an eine romantisierende Heldenverehrung.

Erst in dem Aspekt der bis heute unveränderten Lebenswelt der beiden Tanten von Bernd Becher gewinnt die Serie einen eigenen Charakter. Mit den Motiven Spazierstöcke, Familienbild mit Wasserturm [von Bernd Becher], Nähzimmer, Familienbilder, Zimmertür, Nachtschrank, Aufgang (S. 24, 27, 32, 36, 42, 47, 61, 79) werden Themen einer anderen Alltagswelt, wie die starke Religiosität (Bertas und Marias Schlafzimmer und Kommode, S. 55, 77) sichtbar. Bernd Becher hatte zu seinem Vater, der Malermeister und Dekorationsmaler war, ein gespanntes Verhältnis, da dieser ihn zum Nachfolger im eigenen Betrieb bestimmt hatte. So entwickelt er starke Bezüge zu seinen Großeltern und seinen unverheirateten Tanten Berta, tätig als Rotekreuz Schwester und Maria, einer Näherin, die sich wie in Montanregionen üblich auch durch „Kostgänger“ Geld verdiente. Diese Familienverhältnisse haben auch Eingang in das fotografische Werk gehabt.

So entsteht im Nachhinein auch die Kenntnis von biografischen Aspekten zu dem Ehepaar Becher, der prägende Gegensatz aus dem kleinbürgerlichen fast ländlichen Umgebung Bernd Bechers und dem großbürgerlichen Milieu Hilla Bechers in Potsdam (S. 21, 67). Im Nachhinein gesehen war dieses Haus und das Lebensumfeld nicht nur prägend für sein malerisches, zeichnerisches Werk, sondern auch für seine fotografischen Werkserien. Wer das Werk des Ehepaars Becher kennt, kann sich mit der Werkserie von Laurenz Berges, die zwei ganz unterschiedliche Lebenswelten zeigt, besser in ihre Bildauffassung hineindenken.

Der in der näheren Umgebung von Mudersbach aufgewachsene Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil stellt in seinem Essay die Frage zu der Bedeutung des Becherhauses hypothetisch an einen Historiker und eine Kuratorin. Dabei hinterfragen seine schriftstellerischen Fantasien die von Berges fotografierten Motive. Er hat weitere kunstliterarische Essays an der Schnittstelle von Erinnerung und Fotografie vorgelegt, u.a. "August Sander, der Westerwald, seine Bewohner und ich."

Das Buch ist eine Werkserie im Stile der dokumentarischen Bildauffassung und stellt die Lebenswelt eines bedeutenden Fotografen-Ehepaars dar. Es ist auch die Überhöhung des beruflichen Werdegangs von Bernd und Hilla Becher und damit eines Abschnitts fotografischer Entwicklung der letzten 40 Jahre, der bis heute prägend ist und hier am Ort seiner Entstehung aufgezeigt wird.

Diese Werkserie hat vor dem Hintergrund der Entscheidung zu einem „Deutschen Fotoinstitut in Düsseldorf“ eine neue Bedeutung, da es zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerische Relevanz anregt. Letztendlich geht es um den Diskurs der künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie oder eines Personenkultes, mit dem die Protagonisten eigentlich auf sich selbst zeigen, wie jetzt bei der Entscheidung für Düsseldorf. (db)

Ausstellung 17.3.-6.8. 2023 im Museum für Gegenwartskunst (Siegen)
Ausstellung 12.11.2023-21.1.2024 in der SK Stiftung Kultur (Köln)


Das Becherhaus in Mudersbach
Laurenz Berges

Text: Hanns-Josef Ortheil
Deutsch
Buchgestaltung Leineneinband mit Tafelteil
112 Seiten, 42 Farbtafeln, 2 Abbildungen
Schirmer/Mosel Verlag, München
ISBN 978-3-8296-0948-7
38,00 €