Das Buch „Bernd und Hilla Becher“ ist dem Genre der posthumen Künstlerbiografie zuzuordnen mit bisher unveröffentlichten Werkgruppen, Dokumenten und Werken aus der Privatsammlung der Bechers. Ergänzt wird die Buchstruktur um frühe Aufnahmen, Fotomontagen, Arbeitsskizzen, historische Postkarten, Notizbücher, Studioansichten, Erinnerungsfotos etc. Nicht mehr die einzelne Fotografie und deren Einordnung in eine Typologie sind essenziell für das Buch, sondern es wird die „Marke Becher“ präsentiert. Man merkt dem Buch deutlich an, dass es in den USA marktgerecht konzipiert und bei Schirmer-Mosel lediglich gedruckt und verlegt wurde. Wenn man das Werk in den letzten Jahren verfolgt und das Ehepaar Becher auch im persönlichen Gespräch kennengelernt hat und somit ihre Einstellung zu den eigenen Werkgruppen, dann tut diese Entwicklung einem Leid, eine Kunstmarkt-Verwertung im US-amerikanischen Stil haben sie nicht verdient!
Buch und Ausstellung sind die erste große Retrospektive von Bernd Becher (1931–2007) und Hilla Becher (1934–2015) seit den 1960er Jahren. Ihre fotografischen Werkgruppen sind eindrucksvolle Dokumentationen der industriellen Architektur, aber sie haben auch neue stilistische Formen entwickelt und der Dokumentarfotografie künstlerische Wege und Ausdrucksformen erschlossen. Ihre Fotografien sind Gegenstand formalästhetischer Diskussionen und Analysen durch Kunstwissenschaftler*innen und Kollegen*innen.
Der die Tafeln begleitende Textteil beinhaltet die Essays „Documenting the Whole Plant“ (Zeche Concordia, Gabriele Conrath-Scholl), „A Lifelong Project of Uninflected Passion“ (Virginia Heckert), „A Postmortem for Industry“ (Lucy Sante) zu Werdegang und Werk der Bechers und deren Rezeption. Neben den 108 Tafeln mit den schon vielfach gesehenen Fotografien ist das Gespräch (S. 212-251) von Max Becher mit Jeff L. Rosenheim von besonderem Interesse, denn Max Becher - in den USA zum Fotografen ausgebildet - beleuchtet die Werkserien und die Arbeit seiner Eltern aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Dem interessierten Leser wird deutlich, dass nicht nur „Künstlerwitwen“ sondern auch Söhne meinen eine Deutungshoheit über das Werk der Verstorbenen zu haben.
1977 gab der Verlag Schirmer/Mosel das erste Buch mit Photographien der Bechers heraus und mit dieser Retrospektive den mittlerweile 27 Titel, damit hat der Verlag sich um das Werk der Bechers verdient gemacht und mehrere Photographen Generationen umfassend inspiriert. Für Kunstwissenschaftler und Fotografen ein gleichermaßen interessantes Buch, das gut gestaltetet ist und dafür entschädigt, dass die große Becher-Retrospektive nicht in Deutschland gezeigt wird. Eine gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen in besonderer Weise künstlerisch gerecht wird, indem sie den wichtigen Aspekt der Typologien im Werk der Bechers durch mehrfach gefaltete Seiten in der Buchmitte berücksichtigt. Werden diese Seiten auseinandergeklappt, ist es möglich die Motive in der konzeptionellen Abfolge zu betrachten (z.B. siehe Seite 126-128, 157-160).
Diese themenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregen und stellt einen wichtigen Aspekt dar, wie wir mit den Nachlässen von Künstlern umgehen sollten. Ein Beitrag zu weiteren Diskursen über das was als Interpretation gerechtfertigt ist und wo der Respekt vor der Persönlichkeit des Künstlers dessen Interpretation respektiert. Der Liebhaber des Fotografie-Buches wird diesen Band gerne seiner Becher Buchsammlung hinzufügen. (db)
Ausstellung bis 6.11. 2022, The Metropolitan Museum (New York)
Ausstellung vom 17.12.2022 bis 2.4.2023 im SFMoMA, (San Francisco)
Fotografien von Bernd & Hilla Becher
Hrsg.: Jeff L. Rosenheim
Texte: Essays von Gabriele Conrath-Scholl, Virginia Heckert, Lucy Sante und einem Interview mit Max Becher
Englischsprachige Originalausgabe
Buchgestaltung Festeinband mit gefalteten Seiten in der Buchmitte
282 Seitens, 108 Tafeln in Duotone, 144 farbige Abb.
Schirmer/Mosel Verlag, München
ISBN 3-978-8296-0957-9 (Buchhandelsausgabe, geb.)
58,00 €