Annette Rausch: C50.9G

Eine Zahlenkombination, ein Name, eine blaue Linie auf Recycling-Karton. Das Cover von Annette Rauschs neuem Fotobuch ist sehr minimalistisch gestaltet für die maximale Veränderung, die es subjektiv dokumentiert und visualisiert. Die Linie – ein Berg, den es hinabgeht? Eine Herzlinie? Der Code bleibt für die meisten wahrscheinlich zunächst nicht verständlich, wird von zwei Gruppen allerdings direkt erkannt: Von jeder 8. Frau und dem medizinischen Personal, das diese Frauen während ihrer Brustkrebserkrankung begleitet. Rauschs Cover in seinem Minimalismus steht ein für eine kleine Zellveränderung, die Großes, ja, meist Alles verändert.

Das Vorsatzpapier erwartet uns abstrakt und direkt zugleich. Mit dem Muster des Krankenhauskittels und einem Plastikschlauch, setzt es den visuellen Ton für das, was nun kommt. Das erste Bild ist ein Porträt, eine klassische Rückenfigur. Jede 8. Frau kann sich in sie hineinversetzen. Sie schaut auf eine Wand, ins Nichts, in einen leeren Raum, die Haare sind im Fokus. Das zweite Bild entlarvt die blaue Linie vom Cover als Bestrahlungsmarkierung. Wir begleiten Annette Rausch bei ihrer Reise durch eine für die meisten Menschen bisher unbekannte oder für Betroffene alternativ schmerzlich vertraute Welt. Ein Port wird gesetzt, als Nebenwirkung der Chemotherapie wird die Haut trocken, die Haare fallen aus, Stützstrümpfe gegen Krampfadern und Thrombosen hinterlassen ihre Noppenabdrücke als sichtbare Spuren auf der Haut. Die Fotos zeigen blaue Bestrahlungsmarkierungen, orangenes Desinfektionsmittel, Fäden und immer wieder Haut. Es sind intime, nahe und doch zugleich abstrakte, teils geometrische, in jedem Fall ästhetisch durchdachte und gestaltete Bilder, mit denen Rausch versucht, die unfassbare Erfahrung des Körpers zu visualisieren, zu teilen, greifbarer zu machen und zu verarbeiten. Die Kamera begleitete sie durch ihren neuen Alltag mit „16 Chemotherapien, 2 Operationen und 28 Bestrahlungen […] durch neun körperlich und seelisch anstrengende Monate“, wie sie in dem sehr gut verfassten Begleittext schreibt.

2021 erhielt die Serie eine Auszeichnung im Rahmen des Aenne-Biermann-Preis für innovative Gegenwartsfotografie. In einem eigenen Raum war eine Auswahl von großformatigen und sehr persönlichen Bildern zu sehen. Im Frühsommer 2023 stellte sie erneut im Atelier für Photographie in Berlin aus. Dabei, wie auch in dem nun vorliegenden Buch, gelingt Rausch ein immenser Spagat: Sie zeigt eine intime Veränderung, ohne sich persönlich zu offenbaren. „Mir geht es nicht um die Selbstdarstellung meiner Person, sondern um die fotografische Darstellung eines Behandlungsprozesses, der individuell sehr unterschiedlich, aber dennoch verallgemeinerbar ist“, beschreibt sie selbst ihre Bilder. Auf diese Weise gibt sie den Betrachter*innen ein schmales und doch gewichtiges Buch in die Hand, das unbedingt und existentiell zu lesen ist, gerade auch im leeren Raum zwischen den Bildern. Vieles bleibt offen, die emotionalen Leerstellen müssen die Betrachtenden selbst auffüllen und den Behandlungsprozess in seinen Auswirkungen selbst interpretieren.

Rausch gelingt eine vielschichtige fotografische Exploration, nach außen sowohl dokumentarisch als auch künstlerisch, nach innen zugleich erforschend, verortend und selbstreflexiv. Die Kamera erscheint als stabilisierender Faktor während ihrer Erkrankung. Diese verschiedenen Aspekte des Fotografierens und Rezipierens fotografischer Bilder – des fotografischen Akts, wenn man so will – verdichtet das Buch gekonnt. Durch seine Durchdachtheit, seine grafische und manchmal humorvolle Gestaltung sowie die präzise Bildauswahl offenbart es zudem etwas, das oft vergessen wird, wenn man Krebs von außen betrachtet, nicht aber, wenn man ihn von innen durchlebt: Auch in dieser Phase geht das Leben weiter und wird weiter gestaltet. Die Person hört nicht auf zu existieren, ist niemals nur Körper, nicht nur Krebs, sondern immer auch ein Individuum, das mit der Situation umzugehen versucht, ja umgehen muss. In Annette Rauschs Fall entstand daraus ein wichtiges und wahres Buch, das Jedem und Jeder zu empfehlen ist, das Brustkrebs am eigenen Körper zeigt, um einen Dialog und eine Auseinandersetzung anzuregen. Kurz: Annette Rausch Buch C50.9G ist ein Kleinod, in dem jedes Foto sitzt und das die erstaunlich dünne Fotobuchlage zum Thema sehr bereichert. (Jule Schaffer, DGPh)

 

Annette Rausch: C50.9 G
Künstlerinnenbuch, 2023
Fotografien. Mit einem Nachwort der Künstlerin.
Hardcover, offene Fadenheftung
Format 240 x 170 mm
56 Seiten
Erschienen 2023 im KRAUTin Verlag
ISBN 978-3-96703-086-0