Das Buch „Siebenunddreißig Jahre Theaterfotografie“ ist eine Dokumentation der Schauspielkunst aber vor allem sind es 40 Jahre künstlerische Fotografie. Hans Jörg Michel steht in einer Reihe mit Lieselotte Strelow und anderen Fotografen*innen in diesem Genre. Es ist aber auch stilistisch und technisch eine interessante Publikation durch ihre Spannweite von Schwarz-Weiß zu Farbe in der Bilddarstellung und technisch von analoger zu digitaler Bildaufzeichnung.
Die Fotografien von Hans Jörg Michel stehen für drei Themenbereiche - vor der Bühne, hinter der Bühne und dem fotografischen Experiment. Auf der Bühne geht es ihm nicht nur um die Mimik und Atmosphäre, sondern um genuine Bilder der Inszenierungen, die weit über eine Dokumentation hinausgehen. Hans Jörg Michel destilliert aus dem Bühnengeschehen vielmehr kaleidoskopartige eigenständige Bildwerke, die dem Betrachter eine autonome Betrachtungsweise ermöglichen. In seinen Fotografien (analog oder digital, in Schwarz-Weiß oder in Farbe) werden für den Betrachter eigene Assoziationen, im Wechselspiel un¬serer Einbildungskräfte freigesetzt, die unabhängig von den Intentionen des Dichters oder Regisseurs sind.
In alten Inszenierungen entdeckt der Betrachter bekannte Gesichter (Sänger*innen und Schauspieler*innen), die prägend für das ‚Nationaltheater Mannheim‘ wie beispielsweise Jörg Hartmann, Matthias Brandt, Rainer Bock, Hedi Kriegeskotte waren. Maßgeblich werden die Bildgestaltungen der Theaterfotografen von Bühnenbild, Beleuchtung und Regieanweisungen vorgegeben, denen sie auch verpflichtet sind, Hans Jörg Michel daraus eigene Bildmotive entwickelt.
Kongenial hat er die vorgefundenen Beleuchtungssituationen zu „Lichtbildern“ weiterentwickelt und optimiert. Prägnante Beispiele dafür sind Glückliche Tage, S.83, Orwell, S. 86, Vespertion, S.100, Il Trovatore, S. 113, Scherz Satire Ironie, S.118. So hat er eigenständige Bildwelten geschaffen u.a. mit seinen Panoramen vom NTM-Ring oder dem Salzburger „Rosenkavalier“, dies sind außerordentlich ästhetische Bildkompositionen, die Schauspiel- oder Operninszenierung reflektieren und interpretieren.
Neben dem Nationaltheater Mannheim arbeitete Hans Jörg Michel an renommierten Schauspiel- und Opernhäusern, wie Thalia Theater Hamburg, Staatsoper Hamburg, Deutschen Oper am Rhein, Oper Köln, Opernhaus Zürich, Oper Basel, Salzburger Festspiele etc. Die eindrucksvollen Bildserien werden ergänzt durch den Essay „Subtiler Beobachter - Hans Jörg Michel - Vier Jahrzehnte Theaterfotografie“ von Claude W. Sui.
Wer schon als Schüler staunend vor den Theaterkästen gestanden und sich vorgestellt hat, welches Stück zu den Fotografien gehört, wird von dieser hervorragend editierten Publikation begeistert sein. Sie bietet die Möglichkeit nicht nur die ästhetische und technische Entwicklung der Theaterfotografie nachzuvollziehen, sondern auch die Bildauffassung vom Charakterportrait z.B. „Mephisto“ hin zu szenischen Bildwirkungen.
Diese facettenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Theaterfotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregen und stellt einen Beitrag zu weiteren Diskursen über das was als Interpretation gerechtfertigt ist und wo der Respekt vor der Persönlichkeit des Künstlers dessen Interpretation respektiert. Der Liebhaber des Fotografie-Buches wird diesen Band gerne seiner Buchsammlung hinzufügen. Für alle aktiven Fotografen*innen ist es große Inspiration, die neue Wege aufzeigt, welche auch bei ganz anderen Themen genutzt werden können. (db)
Siebenunddreißig Jahre Theaterfotografie
Hans Jörg Michel
Hrsg.: vom Nationaltheater Mannheim
Texte von Ralf-Carl Langhals, Claude W. Sui
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Festeinband
128 Seiten, 35 Duplex- (Schwarz-Weiß) und 67 Abbildungen in Farbe
Kehrer Verlag, Heidelberg
ISBN 978-3-96900-094-6
39,90 €