Die Neue Sachlichkeit – Deutschland – 1920er Jahre

Das Buch „Die Neue Sachlichkeit – Deutschland – 1920er Jahre“ und die Ausstellung im Centre Pompidou (Paris) zeigen mehr als jede ambitionierte Monografie die Stellung der Fotografie als künstlerisches Medium in den vergangenen 100 Jahren. Beim Durchblättern des Buches wird das Zitat zur „Neuen Sachlichkeit“ „eine um 1922 einsetzende künstlerische Richtung in Deutschland, die in bewusstem Gegensatz zum Expressionismus wieder das objektive Dasein der Gegenstände erfassen wollte […...] vertreten in der Malerei u.a. von Otto Dix, G. Grosz; in der Photographie von Albert Renger-Patzsch.“ aus dem „Kunst Brockhaus“ bestätigt. Namensgeber ist der Ausstellungstitel „Neue Sachlichkeit“ der Kunsthalle Mannheim (1925) mit dem G. F. Hartlaub einer Stilepoche den Namen gab. Das Buch gibt einen Überblick über alle Aspekte der „Neuen Sachlichkeit“ in Malerei, Fotografie, Architektur, Design, Film, Theater, Literatur und Musik. Daraus wird deutlich, dass die „Neue Sachlichkeit“ wie z.B. die Renaissance alle Bereiche künstlerischen Schaffens tangiert. Aber die Fotografie nicht nur einzelne Sparten miteinander verbindet, sondern als einzige bis heute stilprägend ist. So gibt es in der künstlerischen Fotografie aktuell eine neue „Neue Sachlichkeit.“

Das Pariser Centre Pompidou steht mit Buch und Ausstellung nach 1986 (Retrospektive A. Renger-Patzsch) ein zweites Mal im Fokus der „Neuen Sachlichkeit“ einen Begriff, den man nur schwer und ungefähr in die französische Sprache übersetzen kann, ist es doch die Ästhetik der Nüchternheit, Rationalität, Standardisierung und des Funktionalismus. Der kulturelle Aufbruch in die Moderne (in der Weimarer Republik) wird durch Protagonisten wie Otto Dix, George Grosz, und Max Beckmann, Walter Gropius und Marcel Breuer, Aenne Biermann, Karl Blossfeldt, Hugo Erfurth, Lotte Jacobi, Lucia Moholy-Nagy, Matin Mukacsi, August Sander, Albert Renger-Patzsch, Umbo, Bertolt Brecht oder Paul Hindemith gezeigt, die u.a. als Protagonisten der Neuen Sachlichkeit die kulturell innovativsten Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland dokumentieren.

In jeder Sprache gibt es markante Begriffe, die in ihrer Dichte und kulturellen Identität mehrere Sinnebenen verbinden, beim Begriff der „Sachlichkeit“ sind es ästhetische Funktionalität, Objektivität, das Nüchterne als emotionale Distanz zum Objekt/Realität. Die Buchtitel ‚ob-jectivity‘oder ‚objectivité‘ werden der deutschen Bedeutung „Sachlichkeit“ nicht gerecht - diese ist mehr als eine ästhetische Bewegung, sie ist mit dem BAUHAUS der Zeitgeist der Weimarer Republik. „Neue Sachlichkeit“ ist eine Wechselwirkung aus Zeit- und Kulturgeschichte und wohl auch ein kultureller Charakterzug wie der Vergleich zu den von uns kulturell sehr geschätzten Italienern zeigt.

Erfreulicherweise ist das Buch in acht thematische Bereiche „Standardisierung, Montagen, die Dinge, kalte Persona, Rationalität, Gebrauch, Überschreitungen und Blick nach unten“ strukturiert, in diese werden Portraits von August Sander immer wieder eingefügt und zeigen so das Bild der deutschen Gesellschaft, die von der „Neuen Sachlichkeit“ geprägt war. Das von Sander verwendete Prinzip der Typologie (soziale Gruppen: Bauer, Frau, Stände, Handwerker, Künstler, Zirkuskünstler) wurde später vom Ehepaar Becher für Ihre Industrie-Fotografien aufgegriffen. Das Konzept der Ausstellung (in Paris), Sander zur Leitfigur der Neuen Sachlichkeit zu machen ist irreführend, denn seine Arbeitsweise ist „dokumentarisch“ und typisiert und hat damit nur eine Nähe zur Sachlichkeitsbewegung. In den acht thematischen Kapiteln des Buches spielt die Fotografie eine prägnante Rolle, da sie per Definition die „nüchterne Realitätswiedergabe“ ist, speziell in den Objektaufnahmen von Albert Renger-Patzsch (z.B. Seite 88, 114, 115, 159) oder den Architekturfotografien von Werner Mantz (z.B. Seite 58).

Zu dem Thema Architektur und Design wird die „Frankfurter Küche“ sachlich und funktional (192, 193) aus der „Siedlung Bornheimer Hang“ (Frankfurt, Stadtbaurat Ernst May) vorgestellt. Die Kuratoren der Ausstellung interpretieren analog zum Literaturwissenschaftler Helmut Lethen die „Neue Sachlichkeit als „Verhaltenslehre der Kälte - neusachliche Moderne sei nur für besser Gestellte gewesen,“ eine Polemik zu Beginn der 1930er Jahre, die heute nicht richtiger und überzeugender ist und weder auf die Fotografien von August Sander noch auf A. Renger-Patzsch zutrifft.

Für Kunstwissenschaftler und Fotografen*innen ist es das maßgebliche Handbuch zu einer Epoche, die gerade die Fotografie bis heute entscheidend geprägt hat und mit der die deutsche Kunst in ihrem Aufbruch in die Moderne Weltruhm erlangte. Das Anknüpfen an diese Epoche nach 12 Jahren Diktatur mit „Kitsch und Propaganda“ bewirkte Otto Steinert als Lehrer an der Folkwang Schule (Essen). Eine gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird mit der Struktur aus verschiedenen farbigen Text- und Bildseiten. Diese themenreiche Retrospektive bietet unterschiedliche Aspekte zu weiteren Diskursen über die stilistischen Varianten der Fotografie. Für Studierende, aktiv Tätige ist es Anlass sich mit den künstlerischen Möglichkeiten und stilistischen Varianten konzeptueller Fotografie auseinanderzusetzen. Der Liebhaber des Fotografie-Buches und der kunst- und kulturhistorisch interessierte Leser wird dieses Buch gerne neben den Monografien bedeutender Photographen in seinem Bücherregal einordnen. Mit diesem Künstlerbuch wird der Anspruch, dass Kunst neue Perspektiven schafft und einen interkulturellen Austausch ermöglicht, eindrucksvoll umgesetzt. (db)

Ausstellungen:
noch bis 5. September 2022 im Centre Pompidou, (Paris)
vom 13.10. bis 19.2.2023 im Louisiana Museum (Humlebæk, Dänemark)

Die Neue Sachlichkeit – Deutschland – 1920er Jahre
Fotografien u.a. von Aenne Biermann, Lotte Jacobi, Lucia Moholy-Nagy, Albert Renger-Patzsch, August Sander, UMBO, Willy Zielke
Malerei und Graphik von Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz, Hannah Höch, Raoul Hausmann, Karl Hubbuch, Heinrich Hoerle, Lotte Laserstein, Hanna Nagel, Anton Räderscheidt, Christian Schad u.a.
Architektur, Design, Film und Theater von Bert Brecht, Marcel Breuer, Slatan Dudow, Walter Gropius, Martin Elsaesser, Carl Froelich, Ernst May, Walter Ruttmann, Margarete Schütte-Lihotzky, Kurt Weil u.a.
Hrsg.: Angela Lampe
Texte von Olivier Agard, Kerstin Barndt, Sabina Becker, Irene Bonnaud, Florian Ebner, Simone Förster, Arno Gisinger, Marie Gispert, Sophie Goetzmann, Inge Herold, Pascal Huynh, Christian Joschke, Angela Lampe, Mathias Listl, Philippe-Alain Michaud, Elke Mittmann, Werner Müller, Herbert Molderings, Jonathan Odden, Olaf Peters, Jonathan Poutier, Patrick Rössler, Jean-Christophe Royoux, Bernd Stiegler, Philippe Sturm und Christina Treutlein, Catherine Wermester.
Deutsch, (Originalausgabe französisch)
Buchgestaltung Festeinband, verschieden farbige Papiere
320 Seiten, 26 Essays, 340 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
Schirmer/Mosel Verlag, München
ISBN 978-3-8296-0944-9
78,00 €