Sibylle Bergemann (1941–2010) ist berühmt geworden durch ihre Modefotografie und die Charakterstudien von Frauen (Portraits). Sie hat sich aber immer auch mit der Stadt Berlin zeitkritisch auseinandergesetzt, das heißt bei ihrem wechselvollen Lebenslauf auch ganz unterschiedliche Ansichten zu der Stadt gefunden! Das jetzt von der Berlinischen Galerie herausgegebene Buch ist eine Retrospektive und stellt die Werkserien 1966–2010 von Sibylle Bergemann vor.
Das Buch präsentiert über 200 Fotografien, davon 30 bisher unveröffentlicht, die einen besonderen Blick auf die stilistische Entwicklung der Fotografin erlauben. In sechs Abschnitten – „Unsichtbare Beobachterin“, „Berlin“, „Frauen“, „Moskau, Paris, New York “, „Die Welt in Farbe“ und „Zurück in Berlin“ – werden ihre Werkserien thematisch und chronologisch (1966 und 2010) dargestellt. Ihre Arbeitsweise hat sie 1973 selbst so definiert als „[…], eine sinnlich wahrgenommene und mitgeteilte Auffassung von Menschen und ihren Beziehungen, von Dingen und ihren Zusammenhängen […].“ Dies trifft in besonderem Maße auf die Werkgruppen Mode und Portraits zu.
Sie hat unser Bild von den Frauen in der DDR geprägt, die Motive sind Schauspielerinnen (Tafel 32+45 Katharina Thalbach), Künstlerinnen, Autorinnen und Mannequins, deren Ausdruck und Pose mal humorvoll und aufsässig, mal lässig und stolz ist, aber immer ist das Selbstverständnis und die Wirklichkeit der Frauen in den Fotografien erkennbar. Diesen Aspekt greift sie auch in ihren Modefotografien auf, mit dem „flüchtig Gegenwärtigen“ zeigt sie in jedem Motiv auch einen Aspekt DDR-Wirklichkeit. Die Modeserien werden thematisch und konzeptuell vorbereitet in situativ natürlichen Lebensräumen aufgenommen, und aus der Improvisation mit Wetter und Licht entstehen unerwartet schöne Bilder mit subtiler Kritik. Sibylle Bergemann sieht in der Modefotografie eine künstlerische Ausdrucksform, die Kleider müssen die Fotografin inspirieren, damit Fotografien entstehen, die ihre anderen Wertvorstellungen und Lebenserfahrungen sichtbar machen was bis heute deren Suggestion ist.
Im Oeuvre der Fotografin nimmt die Stadt Berlin - ihr Lebensort - eine besondere Rolle ein, die sie in essayistischen Reportagen und atmosphärische Bildserien festgehalten hat. Mit einem kritischen Hintersinn, der zugleich eine subtile Regime-Kritik beinhaltet, stellt sie scheinbar Gegensätzliches in poetischer Schönheit dar. Beispiele hierfür sind das abgerissene historische Amtsgericht im Kontrast zur modernen Glasfassade des „Haus des Lehrers“ oder der Rückbau des Palasts der Republik (kulturpolitisches Symbol der DDR) vor dem neobarocken Berliner Dom. Die Berliner fotografiert sie in ihren sozialen Milieus, den städtischen Lebenswelten wie z.B. Tafel 59, in einer empathischen subjektiven Beobachtung. Genauso aber auch die Berliner Institution „Clärchens Ballhaus“ in über 40 Jahren.
Dieser fotografische Ansatz prägt auch ihre berühmteste Serie „Das Denkmal“ das die Entstehung (1975–1986) des Marx-Engels Denkmal dokumentiert, das für das Berliner Marx-Engels-Forum entsteht. Ihre ungewöhnlichen Bildlösungen zeugen von der mit Ideologien und Debatten durchzogenen Entstehung des Denkmals, aber vor allem geben die fragmentierten Körper, geometrischen Formen und unterschiedlichsten Materialien Sinnbilder für verschiedene Themenaspekte her wie auf Seite 158 mit der Nutzung der gleichen Fotografie für sehr verschiedene Buchtitel-Themen. Die Fotografie vom Aufbau der Engels-Figur (1986, Tafel 79) am Kranhaken wird zum Bildsymbol des Endes der DDR.
Der umfassende Ansatz dieses retrospektiven Buches stellt auch die „Lebensorte“ der Fotografin als Teil der Werkgenese dar. Einen Einblick in Bergemanns private und soziale Räume geben Fotografien von Arno Fischer, Ute Mahler, Roger Melis und Michael Weidt und zeigen ihre Verbundenheit mit befreundeten Fotograf*innen in Ost-Berlin und zu internationalen Kolleg*innen - eine Gesellschaft Gleichgesinnter abseits der „Parteiwelt.“ Ihre persönliche Neigung gilt den Hunden, denen sie mehrere Serien gewidmet hat (Tafeln 17-22, 84, 95, 105).
Da Fernweh ein wichtiger Antrieb für ihre fotografische Arbeit ist, beginnt sie nach der Wende zwei neue Wege - die Farbfotografie und die Mode in Afrika. Hinzu kommen Reportagen für GEO, Die Zeit, Stern oder das New York Times Magazine in Dakar, Moskau, New York und Paris. Sie ist Mitbegründerin von OSTKREUZ – Agentur der Fotografen (1990 mit Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann).
Das Buch gewichtet den persönlichen Blick und die Arbeitsweise von Sibylle Bergemann konsequent und in chronologischer Reihenfolge der Entstehung. Untersucht wird das Verhältnis von freien und Auftragsarbeiten in Bezug auf Konzeption und Bildgestaltung, die Arbeitsweise das nicht Alltägliche die Essenz des Wahrnehmbaren aus der Beobachtung in Fotografien umzusetzen. Es ist die Suche nach Übergängen und Vergleichen die Fotografen*innen und Kunstwissenschaftler*innen gleichermaßen interessiert. Eine gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Erschließung fotografischer Werkgruppen ist. Es ist eine Anregung zu der Auseinandersetzung mit der Fotografie unserer Nachbarn und wird zum Nachdenken über die Funktionen des geplanten Bundesinstituts für Fotografie führen. (db)
Ausstellung bis 10.10.2022, Berlinische Galerie (Berlin)
Sibylle Bergemann - Stadt Land Hund
Fotografien von Sibylle Bergemann
Hrsg.: Berlinische Galerie
Texte: von Susanne Altmann, Bertram Kaschek, Anne Pfautsch, Katia Reich, Jan Wenzel, Frieda von Wild, Lily von Wild
Gestaltung: Büro Otto Sauhaus
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Bilderdruckpapier und ein Textteil auf Naturpapier
264 Seiten, 250 Abbildungen in Schwarz-Weiß und Farbe
Hatje Cantz Verlag, Berlin
ISBN 978-3-7757-5207-7
48,00 € (Museumsausgabe 34,80 €)