Herbert List. Das magische Auge. Hirmer Verlag

Herbert-List (1903–1975) zählt zu den bedeutenden Fotografen des 20. Jhds., der mit zwei Werkgruppen Hellas und 1945 München und der Entwicklung des „Magischen Realismus“ die „Künstlerische Fotografie“ geprägt hat. Mitte der 1970er Jahre hatte er eine erste Renaissance und der von ihm initiierte „Magische Realismus“ war damals in den Fotografien von Heinrich Riebesehl und auch dessen Schülern sichtbar.

Der antike Philosoph Platon, verweist auf die Bedeutung der Dinge, die sich hinter der realen momentan sichtbaren Realität befindet (Höhlengleichnis). Der italienische Maler De Chirico entwickelt daraus die Pittura Metafisica. Herbert List greift für unterschiedliche Werkgruppen auf stilistische Elemente des Surrealismus, Neoklassizismus, der Pittura Metafisica und der Neuen Sachlichkeit zurück. Dafür prägte Egon Vietta den Begriff (1942) der „Fotografia Metafisica“, die in den Stillleben vor 1940 deutlich zu erkennen ist. Ein bezeichnendes Motiv (1952) von Herbert List für das „metaphysische“ ist l'Orco im Sacro Bosco des Pier Francesco Orsini. In dieser fantastischen Welt verbinden sich eine üppige Flora und außergewöhnliche Vorstellungskraft, hier (Garten) tritt der „bukolische Hirte“ aus dem Höllenschlund (it. l'Orco) hervor, eine wahrhaftig metaphysische Szene.

Herbert-List hat das Wort „Fotografie“ in seinem griechischen Wortsinn „Licht Zeichnung“ verstanden und daher dem Licht und dessen Schattenwirkung besondere Bedeutung in seiner Bildgestaltung eingeräumt. Die Werkgruppe Griechenland vermittelt besonders deutlich diese Denk- und Arbeitsweise von Herbert List. Hellas ist ein antiker Idealbegriff, der nie real gewesen ist, aber die besondere Beziehung zu dem antiken Griechenland in Deutschland und Frankreich widerspiegelt. Diese Bewunderung für die griechische Antike teilte List auch mit Zeitgenossen, u.a. dem Fotografen Walter Hege. Beide haben in ihrer Bildgestaltung über das Dokumentarische hinaus den Anspruch, als Nachschaffende die vom Künstler beabsichtigte Wirkung - die kulturelle Identität des Ortes durch ungewöhnliche Perspektiven und atmosphärische, dramatische Lichtstimmungen - zu vermitteln.

Dieses Idealbild fotografierte er in einer klassizistischen und idealisierenden Bildsprache mit Anlehnungen an die Neue Sachlichkeit, die Tempel und Säulen werden gemäß Winckelmanns Diktum „edle Einfalt, stille Größe“ dargestellt. Dabei hat auch hier das Licht in allen Schattierungen eine zentrale Bedeutung, diese Sichtweise ist in seinem Buch „Licht über Hellas“ (1953) publiziert.

Die Werkserie München 1945 zeigt nicht nur Aspekte einer zerstörten Stadt, es ist die Reflexion seines „Traum einer lebendigen Antike“, die nun im Schnee ruht, um zu neuer Schönheit wieder erweckt zu werden. Kulturen werden zerstört, aber in ihrer Ästhetik erinnern sie an menschliche Bedürfnisse. Beide Werkgruppen zeigen eindrucksvoll was künstlerische Fotografie ausmacht und was sie darstellen sollte, wenn sie den Anspruch einer künstlerischen Bildsprache stellt.

In Italien wechselt List von der idealisierenden zu einer spontanen lebendigeren Bildgestaltung -sicher auch gefördert durch den Wechsel von der Rolleiflex Kamera (6x6 Mittelformat) zur Leica. In Rom (1953) entstehen die berühmten Fensterblicke in Trastevere und lebendige Straßenszenen, in denen List mit den Personen erkennbar kommuniziert, noch deutlicher in den Serien der Bewohner Neapels (1959, 1961).

Durch seinen Bekanntenkreis unter Künstler*innen und Intellektuellen wird er auch zum Portraitfotografen u.a. von Pablo Picasso, Marc Chagall, De Chirico, Magritte, Georges Braque, Marlene Dietrich, John Heartfield, Günter Grass, Helene Weigel und Ingeborg Bachmann, die er wie seine Straßenportraits in Rom und Neapel stets würdevoll und gleichberechtigt abbildet.

Er hat De Chirico und Magritte portraitiert, aber sich sicher auch intensiv mit ihren Werken und Theorien auseinandergesetzt und diese in seinem „Magischen Realismus“ umgesetzt. In seinen Portraitserien ist neben der Person auch thematisch das Hintergründige und Mehrdeutige der Wirklichkeit der Werke sichtbar. Diese facettenreichen magischen Motive unterschiedlichster Themen machen List zum Protagonisten des „Magische Realismus in der Fotografie.

In allen Werkgruppen findet man das Motiv junger Männer, die von beobachtet bis inszeniert zwischen intimer Nähe und Anlehnung an antike Skulpturen dargestellt werden. Mit den griechischen Fischern und Knaben nimmt er Bezug auf die „Knabenliebe“ in der Antike. In der Industriereportage „Licht über Hamborn“ werden die jungen Stahlarbeiter zu körperbetonten Akteuren in ihrer archaischen Tätigkeit wie die griechischen Fischer. Seine inszenierten Körper nehmen Bezug auf die Antike und stellen Szenen und Skulpturen nach. Es ist sicher sehr verdienstvoll nach 50 Jahren eine so umfassende Darstellung seiner Werkgruppen zu veröffentlichen, zu dokumentieren und zu bewerten. Aber die konzeptuelle Entscheidung ist zu hinterfragen, ob dabei seine homosexuelle Orientierung so breit dargestellt werden sollte, zumal Herbert List selbst eine Veröffentlichung dieser Motive stets abgelehnt hat.
Ein sehr empfehlenswertes Buch als Dokument der Entwicklung des „Magischen Realismus,“ der als Teil der klassischen Moderne auch stilistische Impulse für die aktuelle Fotografie hat. Für Fotografen*innen eine wichtige Inspiration und gestalterisch unverändert eine fortlaufende Anregung.

Die sieben fundierten Beiträge (strukturiert als Kapitel) zu einzelnen Aspekten in Herbert Lists Werkgruppen sind auch für Kunstwissenschaftler ein wichtiger Zugang zu den Intentionen und Arbeitsweisen von List. Es werden neben der Biografie (Peer-Olaf Richter und Nadine Henrich) die Themen Heros und Eros der Antike (Griechenland, Bernhard Maaz), Herbert Lists homophile Ästhetik (Esther Ruelfs), der Weg in die Professionalität (Ludger Derenthal), die Künstlerporträts (Kathrin Baumstark), die Bildreportagen (Michael Koetzle) bearbeitet und Katrin Dyballa setzt sich mit dem Italienbild von Herbert List auseinander. Der zentrale Aspekt der „fotografia metafisica“ wird kenntnisreich von Ulrich Pohlmann analysiert.

Eine gelungene Publikation, die schön gestaltet mit einer sachlich funktionalen Buchgestaltung, den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird. Diese themenreiche Retrospektive wird zum Nachdenken über die Fotografie und ihre künstlerischen Möglichkeiten anregen. Der Liebhaber des Fotografie-Buches wird aufgefordert zum Diskurs über die stilistischen Varianten eines „Magischen Realismus.“ Mit diesem Künstlerbuch (2022) wird der vielbeschworene Anspruch, dass Kunst neue Perspektiven schafft und einen interkulturellen Austausch ermöglicht, eindrucksvoll umgesetzt. (db)


Ausstellung bis 11.09.2022 im Bucerius Kunst Forum, Hamburg

HERBERT LIST
Das magische Auge

Hrsg.: Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann
Texte von K. Baumstark, L. Derenthal, K. Dyballa, H.-M. Koetzle, B. Maaz, U. Pohlmann, E. Ruelfs, P.-O. Richter, N. Henrich
Deutsch
Buchgestaltung Festeinband
288 Seiten, circa 280 Fotografien in Schwarz-Weiß und im Text Abbildungen in Farbe
Hirmer Verlag, München
ISBN 978-3-7774-3907-5
39,90 €