„Neu Sehen“ ist ein Buch, das auf einem Symposion zu „Kontinuitäten und Tendenzen stilistischer Gestaltungsweisen der 1920er- bis 1930er Jahre“ am Städel Museum im September 2020 beruht und durch eine Ausstellung im Städel jetzt ergänzt wurde. Es geht um die Photographie der klassischen Moderne und ihre Auswirkungen bis heute. Dabei wird eine Auseinandersetzung vertieft, die bereits durch die Bücher „Bauhaus und die Fotografie“ „Moderne Ikonografie Fotografie“ „Neues Sehen - Neue Sachlichkeit“ „Fotografien werden Bilder“ und „Werkstatt für Photographie“ behandelt wurde.
Mit dem Bauhaus kamen neue Sichtweisen in die Photographie, die sich radikal von Piktorialismus und den Bezügen zum „Kunstdruck“ abwandten und ungewöhnliche Perspektiven und Standorte, starke Lichtkontraste als Ausdrucksformen nutzten. Gleichzeitig wird die „Neue Sachlichkeit“ in Malerei (Otto Dix) und Photographie (Albert Renger-Patzsch) entwickelt. Diese sachliche Darstellung und die Faszination für die Technik lassen diese Stilart auch ab 1933 weiter existieren. Im Buch werden 100 wegweisende Photographien u.a. von Alfred Ehrhardt, Hans Finsler, Lotte Jacobi, Felix H. Man, Albert Renger-Patzsch, Erich Salomon, August Sander, Umbo, Paul Wolff, Yva, Carl Albiker, Karl Theodor Gremmler und Paul W. John gezeigt, die Kunstwelt und den Alltag geprägt haben.
Das Buch ist in die Kapitel „Neu Sehen,“ „Sehen will gelernt sein,“ „Wo ist …. der neue Fotograf,“ „Nach der Natur,“ „Millionen Gesichter im Menschentrichter,“ „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte,“ „Fortschrittliche Reaktion“ und „Über Propagandafotografie“
strukturiert. Diese zeigen wie eine künstlerische Arbeitsweise in ganz unterschiedlichen Gebrauchskontexten ihre mediale Bandbreite (Ausstellungen, Gestaltung von Werbung, Zeitschriften und Büchern) entfaltet. Diese starke Präsenz im öffentlichen Raum und dem Alltag der Menschen macht diese Art der Photographie auch nach 1933 für die Propaganda geeignet. Wobei ausdrücklich darauf hinzuweisen ist, dass J. Hartfield bereits in den 1920er Jahren Photographien zur Propaganda genutzt hat. Die Photographen*innen der 1920er haben im Gegensatz z.B. zu den Bildhauern (u.a. Arno Breker) nicht ihren Stil der Diktatur angepasst, sondern diese hat die bestehende etablierte „moderne Bildsprache“ für propagandistische Zwecke übernommen. Es ist dies die Wendung aus der Klarheit des neuen Mediums mit "Avantgardisten" der Fotokunst wie Renger-Patzsch oder Paul Wolff zu einem „Neuen Sehen“ im Dienste der Propaganda, das ein neues Kapitel kreiert hat die „Kriegsfotografie“ die auf allen Seiten überhöht, manipuliert und verfälscht. Neu sehen hieß nicht die Realität zeigen. Das gilt auch für die Handy-Photographen mit 20 000 Fotos im Speicher und 100 Millionen Bildern täglich auf Instagram als Leitmedium für Werbung, Propaganda und Selbstdarstellung. Zitat: „Wo die Bilder nicht mehr sagen als ein Wort, bleibt der Mensch ein Analphabet des Visuellen.“
Ergänzend zu den neuen Sichtweisen kommt ab 1925 ein technischer Fortschritt mit „Leica“ „Ermanox“ „Linhof Technica“, der diese Art Photographie stark befördert und bewirkt, dass eine neue detailreiche und kontraststarke Schwarz-Weiß-Ästhetik, entsteht, deren Kunstanspruch sich z.B. in Pflanzendetails (Karl Blossfeldt ) der Ästhetik streng komponierter Industriearchitektur (Albert Renger-Patzsch) und Portraits, die exemplarisch für ihren Beruf und ihren Stand (August Sander) stehen. Bereits in den 1920er Jahren stellt sich damit die Frage „ Ist das noch Kunst oder schon Werbung?“ wie Hans Finsler: "Tasse, Untertasse und Teller" (1931) oder „Heizeisen“ (1926) und Straßenwalze (1940) von Albert Renger-Patzsch deutlich machen.
Die Photographie hatte durch das neue Sehen und die Neues Sachlichkeit eine so prägende Bildsprache „künstlerische Sichtweise“ entwickelt, dass sie auch in der Diktatur für die Propaganda genutzt werden konnte. So gab es fast keine "entartete Photographie" und der Maler der „Neuen Sachlichkeit“ Otto Dix war nicht stilistisch sondern wegen der kriegskritischen Thematik seiner Malerei verfemt. Ein besonders prägnantes Beispiel dieser Kontinuität sind die Griechenland Photographien von Herbert List (Verfolgter der Diktatur) und Walter Hege (Protegée der Diktatur) zur Olympade 1936, deren Photographien weder stilistisch noch themeatisch von einander zu unterscheiden sind.
Ein sehr empfehlenswertes Buch als Dokument der Kulturgeschichte der Weimarer Republik aber auch für die Entwicklung der klassischen Moderne und ihren stilistischen Impulsen für die Photographie. Für zeitgeschichtlich interessierte Leser, Kunstwissenschaftler und Photographen ein gleichermaßen interessantes Buch, das schön gestaltetet ist mit einer ausgewogenen dem Bauhaus entsprechenden Typografie und einer sachlich funktionalen Buchgestaltung. Insgesamt eine besonders gelungene Publikation, die den gezeigten Werkgruppen künstlerisch gerecht wird und auch für die zeitgenössische Photographie eine gute Diskussionsgrundlage bildet. (db)
Ausstellung bis 24.10.2021 im Städel Museum (Frankfurt)
Neu Sehen - Die Fotografie der 20er und 30er Jahre
Photographien u.a. von Alfred Ehrhardt, Hans Finsler, Lotte Jacobi, Felix H. Man, Albert Renger-Patzsch, Erich Salomon, August Sander, Umbo, Paul Wolff oder Yva, Carl Albiker, Karl Theodor Gremmler und Paul W. John
Hrsg.: Kristina Lemke
Texte: Jens Bove, Wolfgang Brückle, Kristina Lemke, Patrick Rösler, Rolf Sachsse, Birgit Schillak-Hamers, Steffen Siegel, Anne Vitten
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Broschur, farbige Papiere,
256 Seiten, circa 180 Abbildungen in Schwarz-Weiß
Kerber Verlag, Bielefeld
ISBN 978-3-947879-08-3
49,90 €