Laudatio von Ute Eskildsen, gehalten am 9. Mai 1992 im Plenarsaal des Dresdner Rathauses:
Die großartigen Leistungen von Fotografinnen findet man in den immer noch einflußreichsten Fotogeschichtsbüchern sehr zurückhaltend behandelt. Erfreulicherweise wurden in den letzten zehn Jahren auch in Europa die fotografischen Beiträge von Frauen durch Ausstellungen und Publikationen verstärkt berücksichtigt. Daß die Vergabe des Kulturpreises der Deutschen Gesellschaft für Photographie 1992 an Evelyn Richter mit einer Präsentation ihrer Arbeiten in der Akademie der Künste hier in Dresden verbunden werden konnte, ist in diesem Zusammenhang besonders erfreulich. Eine Retrospektive ist in Halle geplant, hoffentlich mit einer umfangreichen Publikation. Evelyn Richters Fotografien kannte ich bis zum Ende der 70er Jahre ausschließlich in gedruckter Form: aus dem DDR-Fotojahrbuch inter-national, aus den Weltausstellungskatalogen von Karl Pawek, dem von Berthold Beiler und Heinz Föppel herausgegebenen Band "Erlebnis/Bild/Persönlichkeit - Fünf Fotografen/Fünf Sichten" und durch zwei Bücher der Fotografin: "David Oistrach, ein Arbeiterportrait" und "Paul Dessau aus Gesprächen". Persönlich lernte ich die Fotografin 1981 in Essen kennen. 1978 hatten wir uns in Köln verpaßt, wo sie einen Preis und damit verbunden eine Einladung zur photokina im Zusammenhang des Wettbewerbs zum "Jahr der Menschenrechte" erhielt. Danach trafen wir uns und verpaßten uns wieder. Verabredungen mit Evelyn sind einfach zu treffen, aber werden gern durch Unvorhergesehenes gestört. Evelyn ist eine temperamentvolle, hartnäckig engagierte Frau, die den Auswirkungen lebensgeschichtlicher Konfrontationen und Erfahrungen keine Kompensationsstrategie entgegnet hat. Eine außergewöhnliche Skepsis gegenüber Institutionen und deren Vertreter im eigenen Land ist tief verankert.
1930 wuchs Evelyn Richter als Tochter einer bürgerlichen Familie auf. Ihr Vater betrieb ein Sägewerk. Er wollte einen praktischen Beruf für seine Tochter - sie interessierte sich für das Goldschmiedehandwerk und für die bildende Kunst. Die Klavierlehrerin gab dann den Anstoß zur Fotografie - sie kannte Pan Walther. 1948 begann Evelyn dann eine fotografische Ausbildung bei Christine und Pan Walther, der aber bereits 1951 nach Münster übersiedelte. Bei den Walthers in Dresden erlernte die Fotoschülerin die handwerklichen Kenntnisse und wurde in die kunstfotografischen Ideen Franz Fiedlers, dem Lehrer von Pan Walther, eingeführt.
Evelyn Richter fand im Anschluß an diese ersten fotografischen Erfahrungen eine Tätigkeit an der Technischen Universität Dresden am Institut für Mechanik und Spannungsoptik. 1953 bewarb sie sich erfolgreich für ein Fotografiestudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, wo sie 1956 im Zusammenhang einer erbetenen Unterbrechung des Studiums und ihrer Kontakte zur "Abwanderungswelle" exmatrikuliert wurde. Ein externes Diplom konnte sie später nachholen. In der Folgezeit war die Fotografin bis 1980 als freiberufliche Fotografin tätig, ab 1976 als Mitglied des Verbandes bildender Künstler der DDR. In dieser Zeit war sie in unterschiedlichen Bereichen tätig: sie arbeitete als Theaterfotografin, erstellte Betriebsreportagen und übernahm Messegestaltungen. Diese Aufträge gaben ihr die Möglichkeit, eigene Themen zu finanzieren. Verschiedene Reisen führten sie in die Sowjetunion, die CSFR, nach Ungarn und Polen. "Fotografieren bedeutet, daß man dort gewesen ist" - dieses Zitat der Fotografin definiert diese als Reporterin, aber erfaßt nicht ihren Arbeitsanspruch. Evelyn Richter nutzt das fotografische Verfahren zu einer Form der Berichterstattung, die nicht am wirklich aktuellen Ereignis orientiert ist. Sie arbeitet in thematischen Zusammenhängen, deren Ergebnisse schon durch die langzeitlich angelegte Beobachtung über die Kategorie der klassischen Reportage hinausgehen. Zum Beispiel das Thema "Ausstellungsbesucher" beschäftigt die Fotografin seit 1958 - und auch das entstandene Portrait über David Oistrach entwickelte sie erst im Laufe einer zehnjährigen Beobachtung des Musikers. Die einmal von Evelyn Richter geäußerten optimalen Bedingungen für ein Arbeiten im Sinne der Fotografin beziehen sich auf eine enge Zusammenarbeit mit Soziologen und Psychologen, um so eine soziale Problematik gemeinschaftlich komplex darstellen zu können.
Dem Bemühen der Fotografin nach einer erweiterten fotografischen Darstellung folgt nach dem "Oistrach-Buch" eine Publikation über den Komponisten und Dirigenten Paul Dessau. Hier werden Bilderfolgen von Interviewauszügen unterbrochen, ein Versuch; eine Verbindung von Bild und Sprache zu entwickeln. Ein weiteres Projekt im Zusammenhang einer gesuchten Synthese von Bild und Text hat Evelyn Richter 1980 in Zusammenarbeit mit dem Psychologen Hans-Dieter Schmidt unter dem Titel "Entwicklungswunder Mensch" erarbeitet. Dieses Buch ist der Entwicklung des Kleinkindes und deren möglichen sozialen und individuellen Faktoren gewidmet. Parallel zu diesen spezifischen Themenkomplexen hat sich die Fotografin kontinuierlich mit dem Einzelbild, speziell der Menschendarstellung befaßt. Sowohl bekannte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens als auch Individuen am Arbeitsplatz oder zufällige Begegnungen isoliert Evelyn Richter in der ihr eigenen Art der einfachen, klaren Komposition aus einem unprätenziösen Augenblick. Evelyn Richter ist eine beobachtende Fotografin im traditionellen Sinn - aber arbeitet nicht versteckt. Sie ist bemüht, als Fotografin wenig präsent zu sein, um die reale Situation nur minimal zu beeinflussen. "Fotografieren", meint die Fotografin, "bedeutet Gesehenes, Erlebtes und Gedachtes ständig in dialektischer Einheit sichtbar zu machen. Dazu gehört nicht nur eine hohe Konzentration des Schauens und Überlegens, sondern die praktische Umsetzung der Erlebnis- und Denkinhalte ins fotografische Bild ist zugleich auch - und das wird oft vergessen - harte körperliche Arbeit."
Evelyn Richter spürt die Auswirkungen dieser langjährigen körperlichen Anstrengung - für sie ist das Fotografieren heute sehr erschwert. Positiv betrachtet ergibt diese Situation der Fotografin die Chance, das bislang Geschaffene zu selektieren und zu bearbeiten und vielleicht neue Ansätze in den eigenen frühen Labor-Experimenten zu suchen.
Die Ehrung für Evelyn Richter mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie bezieht sich nicht ausschließlich auf die eigenständige Entwicklung des fotografischen Werks, sondern auf ihr Engagement als Lehrerin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst seit 1980. Ihr unbeirrbares Festhalten an der Idee individueller Wahrheitsfindung gab vielen Studentinnen und Studenten Anregungen und den notwendigen Freiraum für die eigene Entwicklung. In den 80er Jahren suchte eine neue Generation von Fotografinnen und Fotografen in der DDR Ansatzpunkte für eine offenere Auseinandersetzung mit dem Bildmittel Fotografie. Der noch zehn Jahre zuvor, z.B. in dem "Fotojahrbuch international", propagierte Weg einer "bewußten Parteilichkeit des Fotografen im marxistisch-leninistischen Sinn" als "elementare Voraussetzung für wirksame Leistungen" hatte als staatliche Verordnung längst die Beachtung der Jüngeren verloren. Dennoch bestand natürlich das Problem der Öffentlichkeit, was zahlreiche Ausgrenzungen, aber auch eine offensichtlich sehr widersprüchliche "Kunstszene" als Opposition zur Folge hatte.
Eine wissenschaftliche Arbeit über die deutsche Nachkriegsfotografie in Ost und West ist im Entstehen und wird hoffentlich Anlaß geben, die herausragenden Leistungen der deutschen Fotografie in einen internationalen Kontext zu stellen und endlich das handliche Ost/West-Etikett in eine argumentative Darstellung überführen. Das fotografische Werk von Evelyn Richter zeigt in diesem Zusammenhang ein kontinuierliches Beharren auf eigenverantwortliche Arbeit. Im Zentrum dieses Werkes steht die Darstellung des Menschen in alltäglichen Umgebungen. Als einfühlsame Beobachterin gelingen ihr außergewöhnlich eindrucksvolle Menschenbilder. Der durchgängig ernste und konzentrierte Ausdruck ihrer Portraitierten in Verbindung mit sehr klaren Bildkompositionen und dem bewußten Einsatz einer kontrastreichen Schwarz/weiß-Fotografie ihren Bildern gibt eine unverwechselbare Melancholie. Evelyn Richter sieht ihre Arbeit in der Tradition der klassischen Bildberichterstattung. Henri Cartier-Bresson ist das bewunderte Vorbild im Sinne einer effektlosen verdichteten Darstellung erlebter Situationen. Aber auch zu den Werken von August Sander, Erich Salomon und Dorothea Lange hat sie eine besondere Beziehung. Mit ihnen verbindet die Fotografin das Interesse an gesellschaftlicher Wirklichkeit. Ihre Auffassung von einer wirklichkeitsbezogenen Fotografie ist nicht auf die Aufzeichnung konkreter sozialer Umstände, sondern auf Verhaltensweisen Einzelner gerichtet. In diesen Situationen, die immer auch Konfrontationen mit Individuen bedeuten, ist die Fotografin Teil des Verhaltens. Und hier liegen der eigentliche Arbeitsansatz und die Faszination der Fotografin, nämlich das eigene, neugierige Interesse am Menschen in visuelle Formulierungen zu übertragen. "Nichts ist sensationeller als die Wahrheit", auf diesen Ausspruch Egon Erwin Kischs bezog Evelyn Richter 1973 in einem Interview die eigene Position. Ihr fotografisches Werk belegt, daß Wahrheit nicht als feststehender, absoluter Wert beurteilt wird, sondern konstant als Versuch der Annäherung und der individuellen Verständnisfähigkeit begriffen wird. Diese Position als Fotografin in der DDR zu entwickeln und durchzustehen war nicht selbstverständlich. "Bei uns war schon die Realität ein Experiment". Mit diesem Kommentar der Fotografin möchte ich schließen.