Auszug aus der Laudatio vom 26. September 1972:
Die Deutsche Gesellschaft für Photographie vergibt ihren Kulturpreis 1972 an Ernst Haas, New York, in Anerkennung der wegweisenden und stilsetzenden Rolle, die seinem photographischen Werk zukommt. Ernst Haas hat bahnbrechend gewirkt für die Entwicklung der Farbphotographie zu einem eigenständigen Ausdrucksmittel, und zwar insbesondere durch groß angelegte Bildessays avantgardistischer Prägung, die während den fünfziger Jahre in der Zeitschrift LIFE veröffentlicht wurden. Ein weiteres Jahrzehnt des Schaffens, das sich nicht nur in zahlreichen Veröffentlichungen und Ausstellungen, in Film- wie Fernseharbeit manifestiert, sondern auch vielfach in der Stille vollzog, hat jüngst seinen sichtbaren Ausdruck in dem Bildband "Die Schöpfung" gefunden.
Ernst Haas, 1921 als Sohn eines hohen Beamten in Wien geboren, schuf als Student, photographisch in Autodidakt, während der ersten Nachkriegsjahre Bildreportagen von der Not der Menschen in seiner Vaterstadt. Sie zählen zu den am stärksten bewegenden photographischen Schilderungen aus jener Epoche. Die völlige Ehrlichkeit des Empfindens, die ungewöhnliche Begabung wurden rasch erkannt und gewürdigt. Haas fand Veröffentlichungsmöglichkeiten in der Schweizer Zeitschrift "du", in der Münchener Illustrierten "Heute" und sehr bald auch in "LIFE", der bedeutendsten Bildzeitschrift der Welt. Die internationale Reportergemeinschaft MAGNUM, 1947 von Robert Capa und Henri Cartier-Bresson gegründet, nahm den jungen Beginnenden bereits 1949 als Gleichberechtigten in ihren Freundeskreis auf.
Mit der Hinwendung zur Farbphotographie, seit Beginn der fünfziger Jahre, hatte Haas das Gestaltungsmittel gefunden, das Seinem zutiefst sensiblen künstlerischen Naturell gemäß war. Eine in langen Streifzügen durch New York gewonnene Serie von Farbimpressionen aus dem Stadtbild, oft in kühnen Teleausschnitten, an der er zwei Jahre hindurch ohne Auftrag, aus eigenem Antrieb und nach eigenen Vorstellungen gearbeitet hatte, machte 1954 Photogeschichte. Sie wurde, ein Bildessay von imponierender Geschlossenheit, auf 26 Farbseiten in zwei Heften von LIFE präsentiert. Einer Millionen-Leserschaft eröffnete sich der Blick auf die besonderen Möglichkeiten subtiler Augenerlebnisse, welche die Farbphotographie bereithält - auch abseits vordergründiger Faktenschilderung. [...]
In dem großen Bildband nun, der 1971 unter dem Titel "Die Schöpfung" als sein erstes Buchwerk erschienen ist, breitet Ernst Haas eine Sammlung von farbphotographischen Schilderungen aus der ursprünglich gebliebenen Welt - der Elemente, der Natur, des Makro- wie des Mikrokosmos - aus. Der Gesamtcharakter dieses Schaffens ist nicht avantgardistisch, sondern eher klassisch zu nennen. Denn diese Bildschöpfungen sind in erster Linie von Streben nach zeitlos gültiger, universaler Harmonie gekennzeichnet.
Damit steht heute der Welt der Bildschaffenden in Ernst Haas ein Mensch als Vorbild vor Augen, dem, durch mehrere eigenschöpferisch geprägte Perioden hindurch, die Photographie nicht lediglich Beruf, sondern Berufung gewesen ist - in jederlei Sinn dieses Wortes.