Presseverlautbarung 17. September 1975
Würdigung von einer Million Suchdienstphotos
Bundespräsident kommt zur Preisvergabe
In Anwesenheit von Bundespräsident Walter SCHEEL vergibt, die
DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PHOTOGRAPHIE (DGPh) - die als das oberste Forum für alle kulturellen Belange der Photographie in d.er Bundesrepublik gilt- am 21. September 1975 im Großen Saal des Gürzenich zu KöIn ihren Kulturpreis 1975 an den "Unbekannten Photographen" zahlloser Portraitphotos des Suchdienstes im DEUTSCHEN ROTEN KREUZ.
Der Präsident des DRK, Walter Bargatzky, wird den mit DM 10.000,-
dotierten Preis aus der Hand des Präsidenten der DGPh, Dr. Gerhard
Schröder, entgegennehmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Photographie würdigt mit ihrer diesjährigen Preisvergabe die Kollektivleistung einer unübersehbaren Gruppe
anonym gebliebener Photographen, die mit, ihren Portraitphotos zu den
Erfolgen des Vermißten-Suchdienstes nach dem Kriege wesentlich beigetragen haben. Dreißig Jahre nach Beginn der Suchdienstarbeit hält die
DGPh diese Würdigung für besonders angebracht.
Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes arbeitet mit fast 200 Vermißten-Bildbänden, in denen 1,4 Millionen Namen von Verschollenen und 887 000 Photos aufgeführt sind. Für die Heimkehrerbefragung wurden
weitere 16 Millionen Einzelbildlisten gedruckt.
Das große humanitäre Werk des DRK-Suchdienstes, dessen Anfänge
bis in das Jahr 1945 zurückreichen, ist durch eindrucksvolle Zahlen
belegt. Die Bilanz nach dreißig Jahren ist imponierend: von 1.743.5OO
Wehrmachtsverschollenen konnte das Schicksal von 1,1 Millionen
aufgeklärt werden; davon durch Suchdienstgutachten 775.5OO Schicksale. Oder: aus den ost und südeuropäischen Staaten kamen seit Inkrafttreten der internationalen Rotkreuzvereinbarungen, also seit der Aufnahme der internationalen Suchdiensttätigkeit mit unseren östlichen Rotkreuz-Nachbarn 640.OOO Menschen in die Bundesrepublik. Sie wurden mit ihren Familien oder Teilen ihrer Familien wieder vereinigt. Bei all diesen Bemühungen spielte seit Beginn der Suchdienstarbeit ein Medium eine ganz besondere Rolle: das photographische Bild, das Portrait-Photo.
Zunächst wurde es beim Kindersuchdienst angewendet, und hierbei hat Hilmar Pabel, Kulturpreisträger 1961 der Deutschen Gesellschaft für Photographie, mit Kinder-Portrait-Bildern aus Waisen und Krankenhäusern, wesentlich mitgeholfen. Die Zentralkartei des Roten Kreuzes in München hatte 20.000 Kinder verzeichnet, die ihre Eltern, und 15.OOO Eltern, die ihre Kinder suchten. Aber schon im Februar 1946 brachte die Hamburger Rotkreuzstelle das erste Kinder-Bildplakat mit den Gesichtern von zwanzig Mädchen und zwanzig Jungen heraus. Es wurde überall ausgehängt, wo Suchende vorzusprechen pflegten, in den Jugendämtern, Heimen, Pflegestätten, Pfarrämtern, auf den Bahnhöfen und in allen Suchdiensteinrichtungen. Ein Jahr später war die HäIfte der abgebildeten Kinder identifiziert und wieder mit ihren Eltern vereinigt. Der systematische Einsatz der Photographie zur Identifizierung von Wehrmachtsverschollenen konnte jedoch erst später erfolgen. Ab 1951 war der Suchdienst München in der Lage, die Namen von Wehrmachtverschollenen nach Truppenteilen und Kriegsgefangenenlagern in Hollerith-Listen zusammenzufassen, diese Listen zu vervielfäItigen und mit ihnen eine Heimkehrerbefragung auf systematischer und breiter Grundlage zu beginnen. In den Jahren nach 195l konnten auf diese Weise über 200.000 Schicksale geklärt werden.
Mit wachsendem zeitlichem Abstand von den Kriegsereignissen und
der Kriegsgefangenschaft zeigte es sich jedoch, daß lediglich Personalangaben als Gedächtnishilfe für die zu befragenden Heimkehrer
nicht genügten. Nicht zuletzt von den Heimkehrern wurde der Wunsch nach Beigabe von Lichtbildern der Verschollenen qeäußert.
"Stalingrad-Arzt" Dr. Othmar Kohler faßte die Meinung vieler mit
den Worten zusammen: " Ich bin überzeugt, daß die Erfolge der Suchdienstarbeit noch viel größer wären, wenn Sie (d.h. der Suchdienst)
Ihre Listen mit Photographien der Verschollenen versehen könnten. Ich habe in Gefangenschaft nie gefragt, wie einer heißt. Aber ich habe tagtäglich sein Gesicht gesehen. Das ist haften geblieben." Mit diesem Urteil gab Dr. Kohler einen wesentlichen Anstoß zur Verwirklichung eines vom Suchdienst seit längerem gehegten Planes: Bildlisten der Verschollenen herauszubringen.
Photos helfen finden
Jeder, der in den ersten Jahren nach dem Krieg im Heimkehrerlager Friedland gewesen ist, erinnert sich der verzweifelten Angehörigen verschollener Kriegsteilnehmer, die unter den glücklich Heimgekehrten nach Kameraden ihrer Väter, Männer, Brüder und Söhne suchten. Sie trugen dabei selbstgefertigte Tafeln mit den Personalangaben der Verschollenen mit sich oftmals versehen mit Photos, herausgelöst aus Familienalben oder alten Ausweisen. Ernst Haas, Kulturpreisträger 1972 der Deutschen Gesellschaft für Photographie, schuf damals eindrucksvolle Reportagephotos solcher Szenen. Aus allen Teilen Deutschlands wurden Lichtbilder vermißter Kriegsteilnehmer von deren Familien nach Friedland geschickt. Aus diesen Aufnahmen entstand in den Jahren von l948 bis I95O in der Zeit d.er zahlreichen Heimkehrertransporte eine zunächst improvisierte Bildkartei, die bald 260.000 Photos umfaßte. Sie wurden schon damals den eintreffenden Heimkehrern nicht planlos, sondern geordnet nach Truppenteilen und Gefangenenlagern vorgeführt...ein Gedanke, der auch den späteren Verschollenenbildlisten zugrunde lag. Die mit dieser Kartei erzielten Erfolge ließen ebenfalls den Wunsch nach einer Gesamtkartei dieser Art entstehen. Die Bildkartei Friedland wurde, nachdem dort nach 1950 zunächst keine größeren Heimkehrertransporte mehr eintrafen, zum Suchdienst München verlegt, wo sie später den Grundstock des Bildarchivs bildete, aus welchem die Verschollenen-Bildlisten zusammengestellt wurden. Dem systematischen Aufbau des Archivs diente auch ein Schreiben, das der DRK-Präsident an, d.ie Angehörigen der Verschollenen richtete und in dem er um Überlassung eines Lichtbildes bat. Nicht wenige Photos wurden dem Suchdienst München außerdem von den Verbänden der Heimkehrer und von ehemaligen Soldaten zur Verfügung gestellt, denen die Aufnahmen von Angehörigen mit der Bitte um Nachforschungen übergeben worden waren. Schließlich verfügte der Suchdienst München über 900.000 Photos: für etwa 70 Prozent der registrierten Verschollenen lagen Lichtbilder vor.
Dieser Leistung folgte die weitere: die Bilder und die dazugehörigen
Angaben so breit zu publizieren, daß ein weitestmöglicher Erfolg zu erwarten war. Im Jahre 1955 folgte der Bundestag dem Wunsch der Suchenden und bewilligte die Mittel, in groß angelegter Weise Bildlisten
zu vervielfältigen und zusammenzustellen. Daraus entstanden die 199
Verschollenen-Bildlisten-Bände. Für die Heimkehrer-Befragung wurden
zusätzlich mehr als 16 Millionen Einzelbildlisten gedruckt. Welch ungeheurer Mühe es bedurfte, um zunächst alle Originalphotos zu bekommen, ist kaum vorstellbar. Die zweite Phase, ihre einheitliche Benutzbarkeit herzustellen, war ein nicht minder mühevoller Prozess. Fast durchweg mußten alte Ausweisphotos und oft unzulängliche Familien- oder Amateurbilder verwendet und reproduzierbar gemacht werden. Ausschnitte, Vergrößerungen, Retuschen bildeten eine komplizierte photographische Einzel- und Nacharbeit, wiewohl die Mehrzahl der Photographien, von denen, welche die Kamera einmal bedient und sie beherrscht hatten, gut brauchbar waren. Sie boten eine entscheidende Voraussetzung für den ebenso humanitären wie spektakulären Erfolg des DRK-Suchdienstes
Das Gesamtwerk dieser ihrerseits verschollenen oder vergessenen Photographen auszuzeichnen, ist der Sinn der heutigen Feierstunde.
Die Deutsche Gesellschaft für Photographie ehrt die unbekannten Männer und Frauen mit ihrem Kulturpreis, den sie stellvertretend für diese dem Deutschen Roten Kreuz übergibt.