Schon mit 12 Jahren photographierte Nilsson biologische Objekte mit Hilfe eines Mikroskops. Weltberühmt wurde er 1965, als in Life seine erste große Bildreportage über die Entstehung und das Heranwachsen des Fötus im Mutterleib unter dem Titel Drama of Life Before Birth erschien.
1993 zeichnete ihn die Deutsche Gesellschaft für Photographie für seine hervorragende Leistung, die Entstehung des menschlichen Lebens durch Photographie und Film einer breiten Öffentlichkeit nahe zu bringen, mit ihrem Kulturpreis aus.
Laudatio von Dr. Wolfgang Brengel, gehalten anlässlich der Kulturpreisverleihung am 1. Oktober 1993 im Foyer des Gruner+Jahr Pressehauses, Hamburg:
Die Deutsche Gesellschaft für Photographie verleiht ihren Kulturpreis 1993 an Dr. Lennart Nilsson. Sie würdigt damit eine Persönlichkeit, deren Arbeit auf dem Gebiet der Medizin-und Wissenschaftsfotografie weltweit Anerkennung und Bewunderung gefunden hat und die auch dem Laien Einblicke in Vorgänge ermöglichte, die in dieser Form sogar den Fachmann vorher nicht zugänglich waren.
Lennart Nilsson wurde 1922 geboren. Sein Vater - ein Techniker - lehrte ihn, den Dingen auf den Grund zu gehen und förderte sein technisches Verständnis. Sehr früh kaufte er ihm bereits eine Kamera und vermittelte seinem Sohn die Grundlagen des Fotografierens. Mit 12 bekam Lennart sein erstes Mikroskop, mit dem er vorwiegend biologische Objekte fotografierte.
Die entscheidende Wende in seinem Lebensweg ereignete sich Anfang der 50er Jahre. Nilsson war inzwischen ein tüchtiger und erfolgreicher Bildjournalist und arbeitete für schwedische Zeitungen. 1951 führte ihn ein Auftrag in das Karolinska-Institut in Stockholm. Als er sich dort umsah, entdeckte er in einem Laborraum menschliche Embryos, die nur wenige Wochen alt waren. Er war erstaunt und fasziniert, wie weit entwickelt diese bereits mit acht Wochen waren. Damals fiel der Entschluß, sich mit der menschlichen Frühentwicklung intensiv zu beschäftigen. Er hatte damit das Thema seines Lebens gefunden.
Einige Jahre intensiver Arbeit folgten. Dann kam sein Durchbruch. Im April 1965 veröffentlichte "Life" seine erste große Story: "Drama of Life Before Birth". Lennart Nilsson wurde damit weltberühmt. Noch heute gelten die Fotos als die bemerkenswertesten Bilder, die je in "Life" erschienen sind.
Seit 25 Jahren forscht und arbeitet Nilsson nun in eigenen Laborräumen, die im Institut für Rechtsmedizin des Karolinska-Instituts untergebracht sind - nur einen Steinwurf von dem Gebäude entfernt, in dem über die Auswahl der Nobelpreisträger beraten wird.
Es würde zu weit führen, versuchte man, alle die Ehrungen und Preise aufzuführen, die ihm im Laufe der letzten 25 Jahre zuteil wurden. Hervorzuheben sind die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät im Jahre 1976, zum ersten Mal an einen Fotografen, und der Hasselblad Preis, der ihm als erstem Preisträger 1980 zugesprochen wurde, eine Auszeichnung, die als "Nobel-Preis der Fotografie" gilt. Sein Film "Das Wunder des Lebens" wurde mit einem "Emmy" ausgezeichnet. 1990 verlieh ihm die Königlich Schwedische Akademie für Ingenieurwissenschaften die Goldmedaille, eine Ehrung, die für langjährige außergewöhnliche Arbeiten verliehen wird.
Die höchste fotografische Auszeichnung Deutschlands - der Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie, der übrigens morgen vor exakt 35 Jahren gestiftet wurde - fügt sich hier nahtlos ein. Die Bilder Lennart Nilssons werden in allen großen Zeitschriften der Welt veröffentlicht.
Viele sind inzwischen schon "Klassiker" geworden, auch dem Laien geläufig. Sogar der schwedische 100-Kronen-Schein, dessen eine Seite ein Porträt Carl von Linnés ziert, zeigt auf der anderen Seite Motive, die nach Fotos von Nilsson gezeichnet wurden.
Seine Bücher erreichten sehr hohe Auflagen. Während er mit ersten Buchpublikationen zum Thema "Ameisen" und "Leben im Meer" vor allem für Aufsehen in Fachkreisen sorgte, wurde sein Buch "Ein Kind entsteht" (1965, Neuauflage 1990) zum Bestseller, übersetzt in alle Kultursprachen der Welt. Betrachtet man seine Bilder, wird deutlich, daß er nicht nur ein hervorragender Wissenschaftsfotograf ist, sondern - neben den Fähigkeiten eines Bildjournalisten - auch ein sicheres Gespür für die Komposition eines Bildes hat. Sein wissenschaftlicher Co-Autor Professor Lindberg sagt von ihm: "Lennart ist der Künstler von uns beiden - er sieht die Sachen im Kopf." Nilsson selbst betrachtet sich mehr als Journalisten: "Ich möchte wichtige Vorgänge, die in uns ablaufen, aber unseren Augen verborgen bleiben, sichtbar machen", sagt er von sich. "Indem ich die Menschen informiere, steigert sich auch deren Achtung vor dem Leben. - Wichtig ist nur, etwas so zu erzählen, daß normale Menschen es verstehen können."
Diese Laudatio wäre unvollständig, würde man nur von seiner Arbeit und seinen Erfolgen berichte, würde man das Bild Lennart Nilssons auf einen technischen Aspekt reduzieren ohne den Menschen zu sehen, der hinter all dem steckt. Er gehört zu den Persönlichkeiten, die trotz überragender Erfolge, trotz weltweiter Anerkennung bescheiden und zurückhaltend geblieben sind. Lernt man ihn näher kennen, sieht man, daß er sehr viel Humor und die seltene Gabe der Selbstironie besitzt. Gepaart sind diese Eigenschaften mit einer fast kindlichen - im positiven Sinne gemeint - Begeisterungsfähigkeit und einer geradezu endlosen Geduld. Nur wenn man diese Wesenszüge kennengelernt hat, weiß man, daß seine Erfolge kein Zufall waren, vielleicht dadurch bedingt, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein oder irgendwann einmal eine Marktnische erkannt zu haben, sondern daß sie vor allem auf die Persönlichkeit Nilsson zurückzuführen sind.
Ein kleiner Junge lief spielend über das brüchige Eis. Es kam wie es kommen mußte: Er brach ein und konnte nur mit Mühe aus dem kalten Naß gerettet werden. Seine ersten Worte, die er mit blaugefrorenen Lippen herausbrachte, waren: "Dort unten habe ich viele wundervolle Sachen gesehen". Bei dem kleinen Jungen handelte es sich - Sie werden es bereits vermuten - um Lennart Nilsson.
Auch wenn die Geschichte, die zu den Anekdoten gehört, die sich um ihn herumranken, nicht ganz der Wahrheit entspräche, auch wenn sie zu den Legenden gehörte, die es in jeder Familie gibt, so wäre sie doch zumindest sehr gut erfunden. Denn sie gibt plakativ wieder, was das Lebenswerk dieses berühmten Fotografen geprägt hat: Nie war er mit dem zufrieden, was sich ihm bei flüchtiger Betrachtung präsentiert hat. Immer wollte er unter die Oberfläche schauen bzw. in das Innere der Dinge vordringen. Lennart Nilsson hat es verstanden, unsere Augen für das zu Öffnen, was sich unter der Oberfläche befindet. Er hat dies selbst dort getan, wo wir vielleicht nicht einmal eine Oberfläche vermuteten. Er hat mit seinen Bildern Einsichten geschaffen, nicht nur Ansichten. Dafür schulden wir ihm Dank und Anerkennung.