1978 erhält Dr. Gisèle Freund den Kulturpreis der DGPh für Ihre praktische als auch theoretische Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie.
1968 entbrannte eine Debatte über die Unterscheidung zwischen Fotokunst und Fotografie, nachdem sie Ihre fotografischen Arbeiten erstmals in Paris ausstellte. Insbesondere Ihre ikonischen Porträts bekannter Schriftsteller:innen und Intellektueller gelten bis heute als wichtige Dokumente dieser Zeit. Ihre Dissertation, die 1968 erstmals in deutscher Sprache unter dem Titel "Photographie und bürgerliche Gesellschaft. Eine kunstsoziologische Studie" erschien, gilt ebenfalls als wegweisendes Werk zur Entstehung der Fotografie und gilt als die erste geisteswissenschaftliche Studie zur Fotografie überhaupt.
Auszug aus der Laudatio:
In Gisèle Freund ehren wir eine Photographin, die das Medium Photographie nicht nur um aufsehenerregende Porträts und schlagfertige Reportagen bereichert hat, sondern darüber hinaus auch wissenschaftlich beleuchtet hat. Photographische Praxis und wissenschaftliche Reflexion gingen bei Gisèle Freund Hand in Hand. Sie waren gleichsam die beiden Seiten einer Medaille und dementsprechend können sie nicht voneinander getrennt werden. Theoretischer Anspruch und praktische Bewältigung der anstehenden photographischen Aufgaben durchdringen sich in ihrem Werk in besonderer Weise. Man kann getrost behaupten, daß ihre photographische Arbeit mit wissenschaftlichem Blick und wissenschaftlicher Akribi durchgeführt worden ist und ihre wissenschaftliche Arbeit mit der Geradlinigkeit und der Plastizität einer vorbildlichen photographischen Reportage.
Daß Gisèle Freund zur Photographie kam, präziser daß die Photographie zur Grundlage ihrer Existenz wurde, ist weder Ursache eines individuellen Wunsches oder gar einer besonders heftigen Neigung, noch war es ihr kraft familiärer Tradition vorgezeichnet. Verantwortlich dafür ist im Gegenteil eine gesellschaftliche Entwicklung, die in den zwanziger Jahren begann und durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland ihren sichtbaren Ausdruck fand. Bei Nacht und Nebel sah sich die Studentin Freund urplötzlich gezwungen, ihren Studienort Frankfurt, und damit ihre Heimat, zu verlassen. Von einem Bekannten war sie gewarnt worden, das ihr Leben bedroht sei. Die Schülerin von Karl Mannheim und seinem Assistenten Norbert Elias, den beiden großen Kultursoziologen, hatte nichts weiter getan, als mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die faschistische Diktatur Hitlers und seiner Partei zu kämpfen. Gemeinsam mit ihren kritischen und über den Tag hinausblickenden Kommilitonen hatte sie gegen die Nazis demonstriert, hatte sich an der Herstellung und am Vertrieb von Flugschriften gegen sie beteiligt und hatte auch mit einer Kamera, einem früheren Geschenk Ihrer Eltern, festgehalten, wie Nazischergen über Studenten hergefallen waren, bloß um sie zusammenzuschlagen. [...]
Als Photographin war und ist Gisèle Freund stets Soziologin, und als Wissenschaftlerin stets auch Photographin geblieben. Dabei ist ihre photographische Sprache genauso unprätentiös, unmittelbar und zupackend wie ihre wissenschaftliche, eine Tugend überdies, die man hierzulande weitgehend mißachtet. In Gisèle Freund besitzt die Photographie den seltenen Glücksfall einer Doppelbegabung, ja, nimmt man ihre schriftstellerischen Qualitäten noch hinzu, einer dreifachen Begabung. Was sie im letzten Kapitel ihres vor zwei Jahren in Deutschland erschienenen Buches "Photographie und Gesellschaft" über die Photographie schlechthin schrieb, gilt auch für sie selbst: "Sie hat dem Menschen dazu verholfen, die Welt mit neuen Augen zu sehen". Nicht nur als Photographin, sondern auch als Wissenschaftlerin.