"Transformationen – oder die andere Art sich ein Bild zu machen
„Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit“ *
Ich will es gleich vorweg sagen: die Fotoarbeiten von Wolfgang Weiss werden nicht mit KI generiert oder manipuliert, sondern es sind „wahre“ Fotografien. Um so irritierender ist es, was wir da zu sehen bekommen.
Aber wie entstehen dann tatsächlich diese Fotos? So einfach, wie aufwendig: der Fotograf hält den Objekten seiner Wahl den Spiegel vor. Üblicherweise verbinden wir mit der Redensart, jemandem den Spiegel vorzuhalten, die Aufforderung, sich in dem Spiegelbild mit seinem wahren Charakter zu konfrontieren und sich selbst zu erkennen.
Ganz anders verhält es sich in unserem Fall, denn der Spiegel ist in besonderer Weise deformiert. Das ist kein handwerklicher Mangel, sondern beabsichtigter Eingriff und Mittel, um das, was wir sehen auf andere Art abzubilden. Wolfgang Weiss fotografiert in diesen Spiegel und bringt auf diesem Wege „die Verhältnisse zum Tanzen“.
In der Fotoserie der „Fördertürme“ geraten die ehemals stabilen Objekte der Arbeitswelt und Ingenieurskunst ins Wanken, lösen sich in Teilen auf und verlieren ihre Form. Die Objekte verlieren ihre Kontrolle über ihre Existenz. Oder: „Die Dinge geraten in Ekstase“, wie es der Philosoph Gernot Böhme einmal in seinem Buch „Atmosphäre“ umschrieben hat.
Technoide Strukturen verwandeln sich in chaotische Schlieren- und Wolkenbilder, das Feste wird plötzlich unstabil und fragil: Ordnung wird zur Unordnung. Es findet eine Transformation, eine Umwandlung in einen anderen Zustand statt. Die Unschärfe wird zum ästhetischen Stilmittel.
Im Gegensatz zur sogenannten „Becherschule“, die den distanzierten und dokumentarischen Blick auf die Objekte wählt, nähert sich Wolfgang Weiss eher mit einer subjektiven Position den Objekten seiner Wahl. In der Architektur der Fördertürme der Bergbauregion hatte unser kollektives Gedächtnis einen Ausdruck und ein Zeichen für ein ganzes Industriezeitalter gefunden. Es liegt der Schluss nahe, dass mit den gespiegelten Bildern auch ein wenig diese Bildgeschichte vernichtet wird. Anders als bei seiner Werkgruppe „Lumen Fidei“, bei der er für die Lichtmetapher neue Bildwelten erzeugt hatte, scheint es bei den „Fördertürmen so, als ob diese Zeugnisse des Bergbaues „dekonstruiert“ werden. Die ursprüngliche Nutzung, Menschen sicher in den Berg und wieder heraufzuholen, ist überholt und wird nicht mehr gebraucht. Ein Prozess des Verschwindens begann. Es steht damit die Frage im Raum: Sind die Fotos von Wolfgang Weiss Ausdruck für das Verschwinden einer Industrie, die ganze Regionen und eine eigene Kultur geprägt hat? Sind es Bilder für einen Verlust oder für einen Neubeginn? Das bleibt im Unklaren.
Soweit, so beunruhigend. An dieser Stelle könnte man die Beschreibung abbrechen. Es sei denn, man möchte sich noch etwas näher auf diese Bildwelt einlassen und suchen, ob noch etwas anderes zu finden ist.
Üblicherweise suchen wir in einer uns nicht vertrauten Bildwelt nach Bedeutungen, weil ein direkter Bezug zur uns bekannten Natur der Dinge fehlt. Wir suchen nach dem sprichwörtlichen „Mann im Mond“, der bekanntermaßen nur in unserem Kopf existiert. Für was stehen diese Bilder, die als Ausgangsmaterial die Fördertürme haben, eigentlich? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten.
Vielleicht reicht es aber schon, sich diesen seltsamen Gebilden der Transformation staunend zu nähern und die Gedanken frei spielen zu lassen.
Und, folgt man weiter der Intention von Wolfgang Weiss, der zu seiner Arbeitsweise sagt: „Diese - von mir Photo-Qubits genannten - Fotografien, sind visuelles Denken ins Offene, Erinnerungen an die Schöpfungsidee. Sie verleihen dem Objekt eine Art Eigenleben, das der Betrachter selbst entdecken mag und dem Objekt zuvor nicht zugesprochen hätte. Photo-Qubits sind Räume für die alte Sehnsucht nach Erkenntnis, dafür, wie alles mit allem zusammenhängen mag.“
Es ist diese andere Art von Wolfgang Weiss, sich die Welt in der wir leben, auf eigene Weise zu erschließen und vielleicht Dinge und Zustände sichtbar zu machen, die wir sonst nur erahnen können."
Georg Dittrich
Architekt und Künstler
*Martin Heidegger, Sein und Zeit