Corina Gertz. Das abgewandte Porträt

Die fotografische Werkserie von Corina Gertz „Das abgewandte Porträt“ ist konzeptionell und stilistisch genau auf das Thema „traditionelle Trachten“ ausgerichtet. Der Begriff Tracht leitet sich vom althochdt. "traht(a)", mittelniederdeutsch "dracht" ab und kann frei als „das, was getragen wird“ übersetzt werden. Diese Tracht ist in Europa regional unterschiedlich und von Staatsgrenzen unabhängig. Erweitert man den Begriff auf traditionelle und historische Kleidung, dann gehören auch Bevölkerungsgruppen (z. B. Dirndl, Lederhose), Volksgruppen (Sorben) oder Berufsgruppen (z.B. Zimmerleute) dazu. Corina Gertz beschränkt sich in ihren Fotografien allerdings auf Trachten von Frauen, diese aber von allen Kontinenten der Erde. So erkennt der Betrachter je nach kultureller Prägung sofort den Kimono, die Tracht der Massai, die friesische, die bayerische oder die sorbische Tracht.

Dabei geht es ihr im Sinne der „Neuen Sachlichkeit“ um das allgemeingültige der Tracht die Farben die Stofflichkeit und die daraus entstehenden Strukturen (Muster), leuchtende Farben prächtige Stoffe und kostbare Stickereien. Dies setzt sie in ihren technisch hervorragenden Fotografien gestalterisch durch den neutralen schwarzen Hintergrund um, die Rückenansicht, die jedes Individuelle eines Porträts ausschließt und die Reduzierung auf zwei Posen, die frontale Rückenansicht und die 45º schräge Rückenansicht von rechts.

Ihr Thema ist also die Bedeutung und Funktion traditioneller Frauenkleidung auf der ganzen Welt. So ist in der Bildkomposition logisch und stringent, dass sie mit der Rückenansicht das Individuum ausschließt und nur die Kleidung als ein skulpturaler und malerischer Informationsträger in den Fotografien bleibt. Die Interpretation der Fotografien, ob es sich um traditionelle Handwerkstechniken, regionale Konventionen, lokales Brauchtum oder religiöse Praktiken handelt, bleibt der Interpretation des Betrachters überlassen. Auf jeden Fall zeigen sie das Interesse der Fotografin an ästhetischen, politischen, sozialen und kulturellen Kontexten. Stilistisch ist der Aspekt interessant, dass Corina Gertz sich formal und in der Lichtführung durch Vermeer van Delft mit der Arbeit „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ (1665) inspirieren lässt, der allerdings auch das Antlitz und damit das Individuum zeigt. Hier hat die Modedesignerin das textile/modische Porträt dem menschlichen vorgezogen und betont das Verbindende ethnischer Gruppen.

Eine gelungene Publikation, die schön gestaltet mit einer sachlich funktionalen Buchgestaltung, der gezeigten Werkgruppe künstlerisch gerecht wird. Diese themenreiche Werkserie wird den Diskurs zu den Varianten konzeptueller Fotografie bis hin zu einem „magischen Realismus“ anregen und damit die Definition was ist künstlerische Fotografie neu formulieren. Ein bemerkenswertes Buch, das zeigt, dass die klassische Bildauffassung auch bei einem besonderen Thema in der zeitgenössischen Fotografie ihre besondere Aussagekraft hat. (db)

 Corina Gertz
Das abgewandte Porträt
Hrsg.: Galerie Clara Maria Sels
Texte von Susanna Brown, Clare Freestone, Barbara Til
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Softcover
176 Seiten, circa 150 Abbildungen in Farbe
Kerber Verlag, Bielefeld

ISBN: 978-3-7356-0905-2
40,00 €