Empfehlungen zum Erhalt analoger Fotoarchive

Voraussetzungen

Hauptaufgabe von Fotoarchiven – wie die aller Archive – ist es, den Erhalt und die Konsultierbarkeit von Dokumenten der Vergangenheit auch für zukünftige Anforderungen der Wissenschaft zu garantieren.
Die digitale Technologie hat diesem Kernbereich der Archivarbeit nützliche Werkzeuge gegeben und neue Anwendungsbereiche erschlossen. Fast alle Fotoarchive arbeiten heute an der elektronischen Katalogisierung sowie der Digitalisierung ihrer Bestände (Abzüge und Negative), wodurch vor allem neue Formen der Online-Konsultation möglich werden.
Die Einführung digitaler Technologien bringt den Fotoarchiven damit zweifellos wichtige Vorteile. Gerade diese verleiten jedoch dazu, die Folgen dieser Entwicklung zu übersehen oder sie nur oberflächlich zu analysieren. Vor allem führt die Digitalisierungsdebatte zu der unterschwelligen Annahme, daß das Originalmaterial nach der Digitalisierung dem freien Zugang entzogen oder auch komplett entsorgt werden könne. Das Kunsthistorische Institut in Florenz – Max-Planck-Institut und die Unterzeichner dieser Erklärung vertreten dagegen die Ansicht, daß es eine zentrale Voraussetzung für die Zukunft der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften ist, das Verständnis für die grundsätzliche Bedeutung analoger Fotos und Archive zu fördern.
Die Überzeugung von der Nützlichkeit und Notwendigkeit des Erhalts analoger Fotoarchive beruht auf zwei einfachen Überlegungen:

  • Jede Technologie formt nicht nur die Wege von Übertragung, Konservierung und Gebrauch von Dokumenten, sondern auch deren Inhalt.
  • Fotografien sind nicht von ihrem Träger unabhängige Bilder, sondern vielmehr Objekte, deren Materialität eine sowohl räumliche wie zeitliche Dimension besitzt. 

Ein analoges Foto und dessen digitale Reproduktion sind weder das Gleiche noch das Selbe

  Daraus folgt:

  • Ein analoges Foto und seine digitale Reproduktion sind zwei verschiedene, unaustauschbare Objekte. Keine Übertragung von einem Medium in ein anderes geschieht ohne Einfluß auf Zustand und Inhalt des Objekts. Es entsteht vielmehr ein neues, vom Original verschiedenes Objekt.
  • Die Konsultation eines analogen Fotos ist eine qualitativ andere Erfahrung als die seiner digitalen Reproduktion, da jede Technologie die Art und Weise der Verwendung von Informationen verändert. 

Die Materialität der Fotografie  

Die neuen Fragestellungen und Forschungsfelder der Wissenschaft machen es notwendig, die traditionelle Gleichsetzung von Fotos und Bildern zu überwinden. Fotos müssen als räumlich und zeitlich bestehende materielle Objekte behandelt werden.

  • Als Objekte besitzen Fotografien eine Biographie, die sich aus unterschiedlichen Aspekten zusammensetzt wie Zeitpunkt, Technik und Ziel der Herstellung; Einordnung in den Kontext des jeweiligen Archivs; Zuweisung einer oder mehrerer Bedeutungen durch die Einordnung in eine Systematik oder durch die Katalogisierung; Veränderung von Funktion und Bedeutung im Laufe der Zeit. Informationen zu diesen Aspekten sind von zunehmender wissenschaftlicher Bedeutung.
  • Kennzeichnend für das fotografische Objekt sind insbesondere taktile Merkmale, die für die Rekonstruktion wichtiger Aspekte seiner Biographie unverzichtbar sind, wie Technik, Herstellungszeitraum oder die Geschichte seiner Benutzung (beispielsweise durch den Erhaltungszustand). 

Grenzen des digitalen Formats

 Die digitale Reproduktion von Fotografien stößt in wichtigen Fragen auf Grenzen:

  • Digitale Technologien leisten wichtige Hilfestellungen, um einzelne Aspekte fotografischer Objekte zu rekonstruieren, ohne jedoch deren Biographie als ganzes reproduzieren zu können.
  • Nicht digital reproduzierbar sind insbesondere die taktilen Merkmale eines fotografischen Objekts.
  • Jede Form von Digitalisierung tendiert dazu, Fotografien auf ihre visuellen Aspekte zu reduzieren.
  • Daher ist die Vorstellung von vollständiger Zugänglichkeit in Verbindung mit digitalen Formaten illusorisch; wo das Internet im Idealfall von Ort und Zeit unabhängig macht, reduziert es den Zugriff auf einen einzigen Aspekt des fotografischen Objekts, nämlich die Bildinformation. 

Die Komplexität des fotografischen Dokuments

 Visuelle und materielle Aspekte ergeben zusammen die hohe Komplexität von Fotografien in ihrer Eigenschaft als Dokumente, d.h. Objekte, die Informationen enthalten. Bei der Umwandlung aus einem analogen in ein digitales Format werden gleitende Übergänge in diskrete Einzelwerte übersetzt. Das bewirkt notwendigerweise eine Reduktion der Komplexität. Im Bereich der Fotografie betrifft dies verschiedene Ebenen, nämlich den

  • Verlust von konstituierenden Merkmalen des fotografischen Objekts (Taktilität, Bildauflösung, Details, Oberfläche) und
  • die Beschränkung der biographischen Spuren auf solche Elemente, die im jeweiligen Katalogsystem erfaßt werden. De facto ist jede Datenbank und jedes Digitalisierungsprojekt darauf ausgelegt, eine begrenzte (wenn auch möglicherweise hohe) Zahl von Fragestellungen zu bedienen.

Die Beschränkung interpretativer Möglichkeiten kennzeichnet jedes Instrument der Katalogisierung, auch im analogen Bereich. Es wird jedoch zu einem grundsätzlichen Problem, wenn das digitale Format das analoge ersetzt – anstatt es zu ergänzen. 

Das Archiv als Ort der Forschung  

Die Erforschung der Fotografie ist unauflöslich mit dem Kontext ihrer Aufbewahrung verbunden, dem Archiv. Das Archiv ist in seiner Materialität eine autonome und singuläre Struktur – und nicht nur die Summe der darin aufbewahrten Fotografien.
Wie jedes Archiv besitzt auch das Fotoarchiv für die Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaften die Funktion eines Labors, eines Ortes der Produktion und Interpretation von Wissen. Fotoarchive garantieren den fortdauernden Zugang zu Fotografien sowohl als Werkzeuge aber auch als Gegenstände der Forschung. Die systematischen Strukturen von Fotoarchiven sind damit gleichzeitig ein Ergebnis der Forschung wie auch ein Abbild der Wissenschaftsgeschichte. Das bedeutet:

  • Für die Erfordernisse der Forschung ist es nicht ausreichend, den Zugang zu einzelnen analogen Fotografien zu ermöglichen; vielmehr muß das Archiv in allen seinen Strukturen und Funktionen erhalten werden – als Ort der Forschung genauso wie als wissenschaftlicher Gegenstand auch zukünftiger Fragestellungen.
  • Die materielle Umgebung eines analogen Fotoarchivs und die dadurch eröffneten Möglichkeiten unterscheiden sich grundsätzlich von den Bedingungen einer im Internet abrufbaren Datenbank, welche lediglich die Konsultation einzelner Reproduktionen analoger Fotografien sowie der jeweils verknüpften Informationen erlaubt. 

Das digitalisierte Archiv: Selektion und Reduktion  

Die Selektion der für die Aufbewahrung wert befundenen Dokumente ist für jedes Archiv zwangsläufig notwendig. Die Digitalisierung eines analogen Archivs bedeutet in jedem Fall einen Zwang zur zusätzlichen Selektion; denn anders als oft behauptet ist Digitalisierung mit einem enormen Aufwand an Personal, Zeit und Kosten verbunden, die ein möglichst ökonomisches Vorgehen notwendig machen. Selektion wird so zur Reduktion:

  • Wie groß auch immer die für Digitalisierungsprojekte aufgewendeten Mittel sein mögen – es bleibt illusorisch zu glauben, daß dadurch eines Tages alle in analogen Archiven vorhandenen fotografischen Objekte mit sämtlichen Metadaten in digitale Formate überführt sein werden
  • Dies führt zu einer irreversiblen Reduktion, wenn gleichzeitig das zu Grunde liegende analoge Archiv mit all seinen komplexen Strukturen zerstört oder dem freien Zugang entzogen wird.

Die Digitalisierung bietet einerseits neue Wege der Interpretation, versperrt jedoch gleichzeitig andere; sie verschafft der Wissenschaft neue Formen der Recherche, während sie andere behindert, wenn nicht unmöglich macht. Digitale Fotoarchive generieren andere Fragestellungen als analoge Fotoarchive. 

Vergänglichkeit und Instabilität digitaler Formate  

Angesichts der durchaus gerechtfertigten Begeisterung für neue Medien und Technologien muß an die weiter ungelöste Frage der Vergänglichkeit und Instabilität digitaler Formate erinnert werden – mit allen damit verbundenen technologischen wie strukturellen Problemen, wie beispielsweise:

  • die zuverlässige Langzeitarchivierung digitaler Informationen und
  • die langfristige Aufrechterhaltung stabiler Funktionalitäten und Strukturen des Internet. 

Verantwortung für die Wissenschaft  

Den Fotoarchiven fällt die Verantwortung zu, für die zukünftige Integrität des ihnen anvertrauten historischen Dokumentmaterials zu garantieren, und dies unabhängig von dessen jeweiligem Format. Das digitale Format kann in keiner Weise als „modernes“ Äquivalent zu analogen Formaten angesehen werden. Nur die Integration analoger und digitaler Formate kann einen angemessenen Erhalt des fotografischen Erbes auch für die zukünftige Forschung garantieren und gleichzeitig das Potential digitaler Werkzeuge kreativ ausschöpfen.
Die Erhaltung der analogen Fotoarchive ist auch im Interesse der Wissenschaftler, die dort ihre Forschungen in Geschichte, Kunstgeschichte, Fotografiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Sozialwissenschaft, Anthropologie, visual studies, Bildwissenschaft etc. betreiben. Dabei darf nicht nur der aktuelle Quellenwert fotografischer Dokumente berücksichtigt werden, sondern vor allem auch jenes Potential, welches das Material für die zukünftigen Fragestellungen der Forschung haben mag. Kommende Generationen von Wissenschaftlern dürfen in ihrer wissenschaftlichen Kreativität nicht durch einseitige Weichenstellungen von heute eingeschränkt werden.
Wir sind zuversichtlich, daß die Vertreter fotografischer Sammlungen wie auch der universitären und wissenschaftlichen Forschung die vorliegenden Empfehlungen durch ihre Unterschrift unterstützen und zu ihrer Einhaltung beitragen.  

Kunsthistorisches Institut in Florenz–Max-Planck-Institut
Dr. Costanza Caraffa
Florenz, 31. Oktober 2009 

Weitere Informationen und Liste der Unterzeichner
Weitere Informationen über diese Initiative, eine regelmäßig aktualisierte Liste der Unterzeichner sowie die englische, italienische und französische Version der Florence Declaration finden Sie bitte auf unserer Website:
http://www.khi.fi.it/photothek/florencedeclaration/index.html.

Zum Unterzeichnen der Florence Declaration schreiben Sie bitte eine Email an
declaration@khi.fi.it
mit dem Betreff "Florence Declaration" und Angaben zu Ihrem Namen, Ort und Institution. Die Liste der Unterzeichner wird einmal wöchentlich aktualisiert.

Kunsthistorisches Institut in Florenz – Max-Planck-Institut
Via Giuseppe Giusti 44, I-50121 Florenz
Tel.: +39 055-24911-1
www.khi.fi.it  

Literaturauswahl:
Geoffrey Batchen, Photography’s Objects, Albuquerque 1997.
Elizabeth Edwards, Raw Histories: Photographs, Anthropology and Museums, Oxford-New York 2001.
Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.), Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London-New York 2004.
Marlene Manoff, “Theories of the Archive from Across the Disciplines”, in: Libraries and the Academy, Vol. 4, No. 1 (2004), S. 9-25. Marlene Manoff, “The Materiality of Digital Collections: Theoretical and Historical Perspectives”, in: Libraries and the Academy, Vol. 6, No. 3 (2006), S. 311-325.
Joanna Sassoon, “Photographic Materiality in the Age of Digital Reproduction”, in: Elizabeth Edwards, Janice Hart (Hg.), Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, London-New York 2004, pp. 186-202.
Joan M. Schwartz, “‘We make our tools and our tools make us’: Lessons from Photographs for the Practice, Politics, and Poetics of Diplomatics”, in: Archivaria 40 (1995), S. 40-74.
Joan M. Schwartz, “‘Records of Simple Truth and Precision’: Photography, Archives, and the Illusion of Control”, in: Archivaria 50 (2000), S. 1-40.
Kelley Wilder, “Photography and the Archive”, in: Kelley Wilder, Photography and Science, London 2009, S. 79-101.